Eine ernste Diskussion über die Ursachen
der Hausse wird nicht geführt
Im Lichte der Daten, an denen die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes heute hauptsächlich gemessen wird, liegt die amerikanische Wirtschaft seit mindestens vier Jahren unter strahlendem Sonnenschein. Das reale Sozialprodukt erhöhte sich in dieser Zeit im jährlichen Durchschnitt um 3,6% bei gleichzeitiger Zunahme der Beschäftigung um insgesamt fast sieben Millionen oder 1,3% jährlich. Was den Glauben an einen tief greifenden Paradigmenwechsel in der amerikanischen Wirtschaft aber vor allem schürte, war die Tatsache, dass bei hohem Wachstum gleichzeitig die Inflationsraten für Konsumenten- und Produzentenpreise fielen. Das war für viele normalerweise unvorstellbar. Schnell hatte man die passende Erklärung parat:
Im internationalen Vergleich liege die amerikanische Wirtschaft insbesondere
aus zwei Gründen weit an der Spitze: Erstens hat sie einen großen
Vorsprung in der Entwicklung und Anwendung der neuen Informationstechnologie,
und zweitens habe das von Wall Street gesetzte Leitbild vom Shareholder
Value in Corporate America gesammelte Management-Energien freigesetzt,
die zu gründlichen Verbesserungen in den Gewinnen und im Produktionsfortschritt
geführt haben.
Shareholder Value über alles Auf eine kurze Formel gebracht: Die ausdrückliche
Verpflichtung des Managements, unter allen Umständen und in erster
Linie den Shareholder Value zu maximieren, wird als die wirksamste Methode
betrachtet, die Leistung in der Wirtschaft zum Besten der Allgemeinheit
zu maximieren. Stichwort und Schlagwort: Corporate Restructuring. Indem
sich dieses Leistungsprinzip inzwischen über die gesamte amerikanische
Wirtschaft ausgebreitet hat, sei letzten Endes der gegenwärtige, lange
wirtschaftliche Aufschwung mit all seinen hervorragenden Eigenschaften
zustande gekommen. Aus dieser Sicht werden andere Länder inzwischen
weitgehend daran gemessen, inwieweit sie die angeblich bewährten amerikanischen
Methoden übernommen haben.
Hausse zieht blinden Glauben nach sich Es passt alles wunderschön zusammen. Doch vor allem haben wohl die endlosen hohen Kursgewinne an Wall Street für eine allgemein hohe Bereitschaft gesorgt, diesen und anderen wohlklingenden Erklärungen fast blinden Glauben zu schenken. Zu einer ersten Diskussion über die Ursachen der Aktienhausse und der glänzenden Performance der amerikanischen Wirtschaft in den letzten Jahren ist es nie gekommen. Die wenigen kritischen Stimmen, die sich meldeten, wurden nicht widerlegt, sondern einfach überhört. Was spricht gegen diesen Glauben an ein Wirtschaftswunder in Amerika? Erstens die Tatsache, dass die angeblich schlüssigen Beweise in Wahrheit alles andere als schlüssig sind, und zweitens die vorliegenden monetären Daten, die klar und deutlich besagen, dass Herr Greenspan über die unmäßigste Kreditinflation präsidierte, die es je in der Welt gegeben hat. Das nämlich ist der Stoff, aus dem regelmäßig Bubbles entstehen. Bis auf den heutigen Tag ist stets und ständig zu hören und zu lesen, eine "asset bubble", also eine Inflationsblase in Finanz- oder Sachanlagen, sei sehr schwer zu erkennen, bevor sie platzt. So Greenspan und viele andere in ständiger Wiederholung. Das ist einfach eine faule Entschuldigung für diejenigen, die nicht sehen wollen. Theoretische Erkenntnis wie geschichtliche Erfahrung
geben in dieser Beziehung eine ebenso einfache wie klare Antwort: Entscheidendes
Kriterium für eine inflatorische Entwicklung jeglicher Art ist die
jeweils stattfindende Kreditexpansion, und zwar Kreditexpansion im Vergleich
mit zwei volkswirtschaftlichen Aggregaten: erstens dem inländischen
Sparaufkommen und zweitens dem Anstieg des nominalen Sozialprodukts, das
die gesamtwirtschaftliche Aktivität misst. Noch in den achtziger Jahren
gehörte diese Einsicht zu den Binsenweisheiten in der Nationalökonomie.
Greenspan übergeht sinkende Ersparnis Die Kreditausweitung der letzten Jahre in den USA ist ohne Vergleich und Beispiel in der Geschichte, weil sie von einem völligen Kollaps der persönlichen Ersparnisbildung begleitet war. Es ist zur Norm geworden, dass die privaten Haushalte beständig mehr ausgeben, als sie verdienen. Fast ein Drittel des Anstiegs der Konsumausgaben in diesem Jahr ging auf das Konto sinkender Ersparnis. In seinen zahlreichen Reden hat Herr Greenspan nicht einmal auch nur ein einziges Wort über die Tatsachen verloren. Zum Vergleich sei bemerkt, dass Japan in seinen Bubble-Jahren der späten achtziger Jahre eine persönliche Sparquote von 12 bis 13% hatte, nach vorher 15 bis 16%. Ein nicht weniger tolles Bild bietet sich beim
Vergleich der laufenden Kreditexpansion mit dem gleichzeitigen Anstieg
des nominalen Sozialprodukts. Dieses stieg im vergangenen Jahr um 400 Mrd.
Dollar und in der ersten Hälfte dieses Jahres um 200 Mrd. Dollar.
Dem stand eine Kreditaufnahme des privaten nicht-finanziellen Sektors,
also von Konsumenten und Unternehmen zusammen, von 995 Mrd.
Dollar beziehungsweise 532 Mrd. Dollar gegenüber. Auf einen Dollar
Anstieg des Sozialprodukts kam von deren Seite damit rund 2,5 Dollar Neuverschuldung.
Wohlgemerkt, dies ist alles private Verschuldung, denn die Regierung macht
in ihrem Haushalt einen Überschuss.
Schuldenberge gebären Blasen Daneben ist aber die explosionsartig zunehmende Kreditaufnahme eines dritten Sektors in Betracht zu ziehen, und zwar des Finanzsektors. Er borgte im vergangenen Jahr 1,068 Mrd. Dollar und 557 Mrd. in der ersten Hälfte dieses Jahres. Das ergibt in der Terminologie des Federal Reserve "net flows through the credit markets" von 2120 Mrd. Dollar im Jahre 1998 und von 1080 Mrd. Dollar in der ersten Hälfte des Jahres. (Nebenbei bemerkt, die jüngsten Zahlen sind nicht auf Jahresrate hochgerechnet). Um die Brisanz der Inflationsblase in den amerikanischen Finanzmärkten zu verstehen, ist es notwenig, sich die Brisanz der Schuldenblase vor Augen zu führen, aus der jede Bubble letztlich hervorgeht. In den vergangenen viereinhalb Jahren bis Mitte 1999 hat die Neuverschuldung in den amerikanischen Kreditmärkten insgesamt um mehr als 7200 Mrd. Dollar oder um 40% auf 24428 Mrd. Dollar zugenommen. Das sind 363% des derzeitigen jährlichen Sozialprodukts. Von dieser Gesamtverschuldung entfielen 25% auf die privaten Haushalte, 24% auf Unternehmen, 15% auf die Regierung und 29% auf den finanziellen Sektor. Im Rückblick erscheint es sonnenklar, dass das amerikanischen Kreditsystem vor allem von 1997 auf 1998 vollkommen außer Kontrolle geraten ist. Die Neuverschuldung des privaten nicht-finanziellen Sektors, also der Konsumenten und Unternehmen, schnellte von einem Jahr zum anderen um 41% und die des finanziellen Sektors um sage und schreibe 64% in die Höhe. Obwohl dies wirklich ein ungeheuerlicher Sprung war, nahm ihn niemand zur Kenntnis, denn Kreditzahlen sind für Alan Greenspan und Wall Street grundsätzlich ohne Interesse. Das einzige, was sie im monetären Bereich aber auch nur gelegentlich beachten, sind die Geldmengen. Immerhin beschleunigte sich das Wachstum der Geldmenge M3 auf 11%, nach 9% im Vorjahr. Doch auch das erschien irrelevant angesichts sinkender Inflationsraten. Für die meisten ausländischen Betrachter ist es ein Rätsel, was die explosionsartige Zunahme der Kreditaufnahme des finanziellen Sektors in den USA zu bedeuten hat. Es handelt sich in der Hauptsache um so genannte "non-bank financial intermediaries", die sekurisierte Hypotheken und alle Arten von Konsumkrediten kaufen und finanzieren. Die Verbindlichkeiten der größten Institute in dieser Gruppe sind "Federal government-related" und genießen infolgedessen Staatsgarantie, die ihre Refinanzierung erleichtert und verbilligt. Hauptsächliche Refinanzierungsquelle sind der amerikanische und der internationale Geldmarkt, die sie mit verschiedenartigen kurz- und mittelfristigen Instrumenten anzapfen. Letztlich wurden sie zur unerschöpflichen Quelle für den unersättlichen Konsumkredit. Kaum jemandem scheint klar zu sein, dass sich hier inflatorische Kreditschöpfung reinsten Wassers in phantastischen Ausmaßen abspielt. Im Unterschied aber zur Kreditgewährung der Banken findet in diesem Falle keinerlei Geldschöpfung in Gestalt einer gleichzeitigen Vermehrung der Bankeinlagen, sondern eine Beschleunigung der Geldumlaufsgeschwindigkeit statt. Was diese Institute über die Geldmärkte von ihren Kreditgebern ausleihen, um damit Kreditpapiere zu kaufen, sind letzten Endes bestehende Bankeinlagen, das heißt bestehende Kassenbestände von Unternehmen und institutionellen Anlegern. Die unsichtbare monetäre Expansionswirkung findet durch schnelleren Umschlag der Einlagen statt. Man führe sich vor Augen, dass die Käufe
dieser Institute von "sekuritisierten" Krediten von 550 Mrd. Dollar im
Jahre 1996 auf mehr als 1000 Mrd. Dollar im Jahre 1998 zugenommen haben.
Diese Summen, um nicht zu sagen Unsummen, lassen keinen Zweifel daran,
dass diese Institute bei der Bildung der großen amerikanischen Kredit-
und Finanzblase in den letzten beiden Jahren direkt und indirekt eine absolut
entscheidende Rolle gespielt haben.
Kreditpyramide führt zu Illiquidität Eine der Folgen dieser Entwicklung ist natürlich,
dass Kreditschöpfung und Geldschöpfung in den USA wie nie zuvor
auseinander klaffen. In der Wirkung auf Wirtschaft und Märkte besteht
keinerlei Unterschied zur Kreditschöpfung der Banken, die mit Geldvermehrung
verbunden ist. Wohl aber wird das Finanzsystem auf längere Sicht zwangsläufig
illiquider, indem im Verhältnis zur Geldmenge eine immer größere
Kreditpyramide entsteht. Ebenso sollte klar sein, dass die Bewegungen der
Geldmengen unter diesen veränderten institutionellen Bedingungen ein
völlig unzulänglicher Maßstab für die Geldpolitik
geworden sind. Womit wir zur wichtigsten Frage überhaupt in diesem
Zusammenhang kommen:
War es die Kreditblase, die wir beschrieben haben? Oder ist es der berühmte Paradigmenwechsel in der Wirtschaft als Folge von High Tech und Corporate Restructuring, den Wall Street und Herr Greenspan beschwören? Halten wir als erstes nochmals fest: Die Kreditexpansion, die in den letzten Jahren in den USA stattgefunden hat, ist ohne Beispiel in der Geschichte. Sie stellt alle bisherigen Bubble-Erfahrungen in den Schatten. Ebenfalls einmalig in der Geschichte ist es, dass alle Welt, nicht nur unabhängige Beobachter und Kommentatoren, sondern vor allem auch die verantwortlichen Geldpolitiker, über die entfesselten Kreditfluten einfach hinwegsehen. Sie werden nicht einmal zur Kenntnis genommen. Dazu sei festgestellt, dass sich die Fed in den
zwanziger Jahren über den haussierenden Aktienmarkt bereits anfangs
1928 Sorgen zu machen begann und von da an bemüht war, ihn durch Zinserhöhungen
frühzeitig zu bremsen. Erst recht aber wäre in der damaligen
Fed niemand auf die Idee gekommen, die Aktienhausse gar mit den großen
Errungenschaften der industriellen Revolution zu rechtfertigen, wie Greenspan
es immer wieder mit Bezug auf Computer- und Informationstechnologie getan
hat. Wall Street schwärmte zwar von einer neuen Ära, niemand
aber in der Fed. Dabei erzielte die Industrie mit einer damaligen neuen
Technologie, die primär die Produktionsanlagen verbesserte, ungleich
höhere, messbare Produktivitätsgewinne als es heute mit der neuen
Informationstechnologie geschieht.
Kein Verständnis für Mises und Hajek Die Meinungsverschiedenheiten über die wirtschaftliche
und finanzielle Entwicklung in den USA gehen letztlich jedoch weit über
die Frage hinaus, ob die Aktienhausse der letzten Jahre eine inflatorische
Bubble darstellt oder aber einen tief greifenden Paradigmenwechsel in der
Wirtschaft widerspiegelt. Anhaltende, größere Inflationsblasen
in den Sach- und Finanzanlagen haben erfahrungsgemäß die unangenehme
Eigenschaft, dass sie je nach Dauer und Ausmaß mehr oder weniger
starke Verwerfungen in der ganzen Wirtschaft bewirken, die langwierige
und schmerzvolle Anpassungsprozesse nach sich ziehen, nachdem die Bubble
geplatzt ist.
Schuld war allein eine zu restriktive Geldpolitik
der Fed, nachdem die Aktienblase geplatzt war. Im gleichen Sinne werden
die anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Japan allein einer
falschen Geldpolitik in der Gegenwart, nicht aber den wirtschaftlichen
und finanziellen Auswüchsen und Verzerrungen aus den vorangegangenen
Bubble-Jahren zugeschrieben.
BoJ mit selben Trivialitäten bombardiert Für diesen Gedanken, für einen neuen
wirtschaftlichen Aufschwung könne es zuerst eines möglicherweise
langwierigen und schmerzvollen Anpassungsprozesses bedürfen, haben
in Amerika weder Politiker noch Nationalökonomen etwas übrig.
Jede wirtschaftliche Stockung ist ihrer Ansicht nach leicht und schnell
zu beheben, indem die Notenbank einfach "Geld druckt". Das einzige, was
ihnen dabei in den Sinn kommt, sind massive Offenmarkt-Käufe der Notenbank
von Staatspapieren. Mit dieser simplizistischen Forderung wird die japanische
Notenbank von maßgebenden amerikanischen Nationalökonomen seit
Monaten bombardiert.
Dummes Zeug Zurück zur Ausgangsfrage: Bubble oder neue Ära in den USA? Wie gesagt, die übliche Behauptung, eine Anlagen-Bubble sei schwer zu erkennen, bevor sie platzt, ist dummes Zeug. Entscheidendes und spielend leicht erkennbares Kriterium ist, wie gesagt, die jeweils laufende Kreditexpansion. Typisches, ins Auge springendes Kennzeichen jeder Inflationsblase in Sach- oder Finanzanlagen ist eine Kreditexpansion, die das Sozialproduktwachstum deutlich übersteigt. Es mag manchmal Grenzfälle geben, aber die gegenwärtige Entwicklung in den USA ist kein Grenzfall, sondern der extremste Fall, den es in dieser Hinsicht je gegeben hat, womit die Aktienhausse der vergangenen Jahre als besonders schlimme Inflationsblase oder Bubble qualifiziert ist. Aber solche Bubbles finden nicht im luftleeren
Raum statt. Wie gesagt, in aller Regel führt die inflatorische Kreditvermehrung
direkt und indirekt zu mehr oder weniger starken Verzerrungen in den Strukturen
der Wirtschaft. Aus der "asset bubble" wird auf diese Weise die "bubble
economy". Im Falle Japans bewirkte die Bubble der späten achtziger
Jahre im Aktien- und Immobilienmarkt einen Investitionsboom ohnegleichen
in Industrieanlagen und kommerziellen Bauten. Selbst nach zehn Jahren haben
die japanischen Unternehmen noch mit den damaligen massiven Fehl- und Überinvestitionen
zu kämpfen. Von völlig anderer Art sind die Bubble-Auswirkungen
der vergangenen Jahre auf die Wirtschaft in den USA. Auf dem Weg über
die gewaltigen "wealth effects" des haussierenden Aktienmarktes zugunsten
der privaten Haushalte ist vor allem der Konsum überstimuliert worden,
übrigens ähnlich wie schon in den zwanziger Jahren, als in den
USA der Konsumkredit erfunden wurde.
Wahrzeichen Handelsbilanzdefizit Doch Herr Greenspan und die meisten amerikanischen
Volkswirte sind außer Stande, in der maßlosen Kreditvermehrung,
dem Zusammenbruch der privaten Ersparnisbildung sowie dem explodierenden
Handelsbilanzdefizit bedenkliche Ungleichgewichte zu sehen, die auf die
Dauer nicht haltbar sind. Das riesige Defizit im Außenhandel wird
ganz im Gegenteil als das Wahrzeichen einer vor Kraft strotzenden Wirtschaft
gesehen und hingestellt. Handelsbilanzüberschüsse werden verächtlich
als Zeichen wirtschaftlicher Schwäche abgetan. Dass Volkswirtschaften
mit starkem Wachstum dank hoher innerer Ersparnisbildung in der Regel starke
Handels- und Zahlungsbilanzen aufweisen, ist ihnen völlig unbekannt.
Beispielloses Nebeneinander Um es zu wiederholen und zu unterstreichen: Amerika
ist der extremste Fall von "asset bubble" und "bubble economy", den es
je gegeben hat. Das hat seinen Grund in dem beispiellosen Nebeneinander
von völlig unkontrollierter Kreditexpansion und völligem Zusammenbruch
privater Ersparnisbildung. Es bedeutet, dass die amerikanischen Märkte
letztlich von zwei ungewöhnlichen und unsicheren Finanzierungsquellen
abhängen. Das eine ist pures finanzielles Leverage, also kreditfinanzierte
Anlagen, und das andere sind Auslandskäufe. Wobei das finanzielle
Leverage bekanntlich in großem Umfang durch Refinanzierung in niedrig
verzinslichen ausländischen Währungen stattgefunden hat, in Yen,
Euro und Schweizer Franken. Hat die amerikanische Wirtschaft aber in puncto
Ertragskraft und Produktivität erheblich gewonnen, wie Wall Street
unter Berufung auf Hightech und Shareholder-Value-Primat zu behaupten pflegt?
Darüber muss es doch objektive und unbestreitbare Statistiken geben.
Ja, es gibt sie, aber ...
Gewinnentwicklung gibt nichts her Was die Gewinne betrifft, so haben es die Analysten
geschafft, mit verschiedenen Vergleichskniffen den anhaltenden Eindruck
eines besonderen Gewinnbooms in diesem Aufschwung zu erwecken. In der Tat
war dies in den Jahren 1993/94 der Fall, nicht aber aus Gründen erhöhten
Produktivitätsfortschritts, sondern als Folge scharfer Zinssenkungen.
In den folgenden Jahren setzte sich der Gewinnanstieg zwar fort, aber mit
stark rückläufiger Tendenz. Vom 3. Quartal 1997 bis zum 1. Quartal
1999 herrschte dann Gewinnstagnation. Erst im zweiten Quartal dieses Jahres
kam es zu neuem Gewinnanstieg (siehe Chart 1 und 2). Kurz gesagt, in der
Gewinnentwicklung der vergangenen Jahre gibt es nichts, absolut nichts,
was zu euphorischem Gerede von Paradigmenwechsel und neuer Ära in
der Wirtschaft berechtigt. Eher haben sich die Gewinne in diesem Aufschwung
unterdurchschnittlich entwickelt, obwohl zwei außergewöhnliche,
stark Gewinn steigernde Einflüsse zur Wirkung kamen: massive Verwendung
von Stock Options und hohe Kursgewinne der Pensionsfonds im Aktienmarkt.
Stock-Options 1 Billion Dollar schwer Es wird geschätzt, dass die ausstehenden Stock-Options
heute einen Marktwert von etwa einer Billion Dollar haben. Im Grunde sind
es Gehaltszahlungen, die aber nicht als Kosten in die Gewinn-und-Verlust-Rechnung
eingehen. Was sodann die Kursgewinne der Pensionsfonds betrifft, so haben
sie die Unternehmensgewinne dadurch erhöht, indem sie den Unternehmen
die sonst notwendigen erheblichen Einzahlungen zur Fundierung der Pensionsverpflichtungen
ersparen. Nicht wenige Unternehmen gehen allerdings noch weiter und kassieren
einen Teil der Kursgewinne für eigene Rechnung.
Manipulation ist oberste Pflicht Im Übrigen ist es ein offenes Geheimnis, dass
zahlreiche Unternehmen jeden Buchhaltungstrick ausnutzen, um ihre Gewinne
zu verschönern. Zu den wenigen, die dies offen kritisieren, gehört
Warren Buffet, Amerikas meistbewunderter Investor, der sich kürzlich
wie folgt äußerte: "Eine wachsende Zahl sonst hochgradiger Manager
- die man gerne als Vater seiner Kinder oder als Treuhänder seines
Nachlasses sähe - sind zur Ansicht gekommen, dass es völlig legitim
ist, die Gewinne zu manipulieren, um die Wünsche von Wall Street zu
befriedigen. Viele Manager halten solche Manipulationen in der Tat nicht
nur für zulässig, sondern für ihre Pflicht." Es sollte klar
sein, was letztlich hinter dieser merkwürdigen Einstellung steht:
die allgemeine Besessenheit gegenüber der erklärten Notwendigkeit,
den Shareholder Value unablässig zu steigern.
Computer verfälschen Statistik In der Wirklichkeit hatte diese Verbesserung der Produktivität einen ganz anderen, und zwar einen rein statistischen Grund. Entscheidend war letztlich eine Umstellung in der Statistischen Bemessung der Computerinvestitionen der Unternehmen. Da die Leistungskraft der Computer bei zudem rapide fallenden Preisen exponentiell zunahm, kamen die amtlichen Statistiker auf den Gedanken, für die Bemessung dieser Investitionen einen Index zu entwickeln, der die beiden Vorgänge im Computerbereich - höhere Leistung zu sinkenden Preisen - erfassen und widerspiegeln sollte. Er fand die Bezeichnung "hedonischer" Preisindex. Dieser Index wird nun seit Ende 1955 angewendet. (Hinweis des Webmasters: soll wahrscheinlich "1995" heißen) Es waren sicherlich vernünftige Überlegungen, die zu dieser Umstellung in der gesamtwirtschaftlichen Statistik führten, aber das schließliche Ergebnis ist grotesk. Mit der Leistungskraft der Computer explodierten - in der Statistik - die Investitionen der Unternehmen, was dann seinerseits in entsprechendem Ausmaß das reale Sozialproduktwachstum erhöhte. Dazu eine Kostprobe: Im vergangenen Jahr erhöhte sich das reale Sozialprodukt der USA - gerechnet in so genannten "chained" Dollars - um 282 Mrd. Dollar beziehungsweise um 3,9%. Alle Welt bestaunte diese hohe Wachstumsrate. Den wenigsten war klar, dass davon 137 Mrd. Dollar oder 48% auf das Konto der auf diese Weise berechneten Computerinvestitionen der Unternehmen gingen. Die tatsächlichen Mehrausgaben der Unternehmen hatten dagegen lediglich 14 Mrd. Dollar betragen. Im ersten Halbjahr 1999 kam der Computeranteil auf volle 81 Mrd. Dollar oder 65% innerhalb eines Sozialproduktzuwachses von 125 Mrd. Dollar. Glatte zwei Drittel des Anstiegs des Sozialprodukts errechnete sich aus Ausgaben, die nicht stattgefunden haben. Im Grunde sind es statistische Phantomdollars. Doch zwangsläufig hatten diese statistischen Umstellungen noch eine weitere bedeutsame Folge. Indem sie das Sozialproduktwachstum erhöhten, stieg in gleichem Maße der gesamtwirtschaftliche Produktivitätsfortschritt. Da die amerikanische Sozialproduktstatistik die Computerinvestitionen der Unternehmen separat ausweist, konnte jeder allerdings mit Leichtigkeit nachrechnen, dass die für die Gesamtwirtschaft ausgewiesene Produktivitätsverbesserung in Wirklichkeit nicht überwiegend auf gewaltige Produktivitätssprünge im Computersektor selbst zurückgeht, auf den gerade 1% des Sozialprodukts in den USA entfällt, das hieß letztlich auf besagte statistische Umstellung. Wer jedoch hatte ein Interesse daran, dies offen zu legen? Niemand, leider nämlich hätte es den einzigen Anhaltspunkt für den Paradigmenwechsel in der amerikanischen Wirtschaft widerlegt. Immerhin, vor einigen Monaten veröffentlichte
ein führender akademischer Experte in Produktivitätsfragen, Prof.
Robert J. Gordon, Northwestern University, eine umfassendere Studie über
genau diese Frage - mit vernichtendem Urteil über die angeblichen
großen Produktionsgewinne in der neuen Ära.
Vernichtendes Urteil zur Produktivität Die Studie gipfelte in der Feststellung, das Bild der wirtschaftlichen Entwicklung in den USA werde durch die besondere Art der statistischen Erfassung des Computersektors völlig verzerrt. In den 99% der Wirtschaft außerhalb der Computerindustrie habe keinerlei Produktivitätsverbesserung stattgefunden, so dass für eine "new-economy"-Revolution nicht der geringste Raum bleibt. Die Explosion in der Herstellung und Nutzung von Computern hatte außerhalb der Computerindustrie, die auf 1% des Sozialprodukts entfällt, keinerlei messbare Produktivitätswirkungen. Im Gegenteil habe sich ansonsten das Produktivitätswachstum eher etwas verlangsamt. Wörtlich: "When stripped of computers, the productivity performance of the durable manufacturing sector is abysmal, with no revival at all and a further slowdown in 1955-99 (Hinweis des Webmasters: soll wahrscheinlich "1995-1999" heißen) compared to 1970-95." Dieses vernichtende Urteil von Prof. Gordon erklärt einiges, insbesondere die enttäuschende Gewinnentwicklung. Zugleich drängt sich die Frage auf: Wo ist eigentlich der Boom, wenn die aufgeblähten Computerzahlen nicht wären? Für 99% der Wirtschaft verbliebe ein reales Wachstum von knapp 2% jährlich. Ein mehr als mageres Ergebnis, wenn man die riesige Kreditblase bedenkt. Trotzdem, der Boom existiert, aber er findet eben größtenteils außerhalb des Sozialprodukts in den Anlagemärkten statt: im Aktienmarkt, im Anleihemarkt, im Immobilienmarkt, während von dem nicht in Frage stehenden Konsumboom der größere Teil inzwischen durch das Riesenloch in der Handelsbilanz ins Ausland abfließt. Bubble oder neue Ära? Über die Antwort
auf diese Frage kann nach diesen Ausführungen kein Zweifel bestehen.
Die Revolution in der amerikanischen Wirtschaft hat nicht stattgefunden,
weder durch die Informationstechnologie noch durch das Shareholder-Value-Primat.
Und sie wird auch niemals stattfinden, denn beide sind von ihrer Natur
her dazu nicht geeignet. Der Druck, unablässig höhere Gewinne
auszuweisen, drängt die Unternehmen vor allem zu Kostensenkungen,
dies aber auf Kosten von Neuinvestitionen, und das führt insgesamt
zu sinkenden Gewinnen.
Neue Technologie leider nur Wunder Und was ist mit der Prosperität, welche die
neue Technologie hervorbringen soll? Es ist ein technisches Wunder, ohne
Frage, nur leider ein Wunder, das nicht die notwendigen Eigenschaften besitzt,
daraus ein wirtschaftliches Wunder zu schaffen. Ein Vergleich mit den wirtschaftlichen
Auswirkungen der industriellen Technologie macht dies klar und deutlich.
Die industrielle Technologie hatte sehr starke Produktivitätswirkungen,
die Arbeitskräfte freisetzte. Aber aus der arbeits- und kapitalintensiven
Herstellung der Anlagen und Maschinen dieser Technologie entstanden große
neue Kapitalgüterindustrien, die den Menschen andere, neue Arbeit
gaben. Es war ein wunderbares Zusammenspiel von Arbeitsteilung und Kapitalbildung,
das die große Prosperität des industriellen Zeitalters hervorbrachte.
Maßlose Konsumentenverschuldung Nichts davon gilt für die Informationstechnologie.
Auch sie setzt Arbeitskräfte frei. Aber die Herstellung der Hightech-Ausrüstung
ist mit minimalem Arbeits- und Materialeinsatz verbunden. Hightech ist
vorzüglich geeignet, die Phantasie der Aktienanleger anzuregen, jedoch
völlig ungeeignet, die Ausgaben- und Einkommensströme in der
Wirtschaft zu vergrößern. Weder neue Technologien noch Shareholder-Value-Primat
haben die amerikanische Wirtschaft in den letzten Jahren vorangetrieben,
sondern es war ein ganz primitives Rezept: maßlose Konsumentenverschuldung.
© Dr. Kurt Richebächer
http://www.goldseiten.de/ansichten/richebaecher-01.htm |