Wie der Traum von der ewigen Hausse jäh endete


Deutschland ist im Börsenfieber. Immer mehr Kleinanleger wollen am Höhenflug des Aktienmarktes mitverdienen. 

Es gibt aber doch warnende Signale. Die wachsende Arbeitslosigkeit steht im krassen Gegensatz zu den Aktienkursen, und einige wenige Wirtschaftspropheten im Hauptberuf, die Büros und Agenturen, die ihre Zukunftsdeutungen verkaufen, warnen. Aber diese warnenden Stimmen finden keinen Widerhall in der amerikanischen Öffentlichkeit, die vom romantischen Glauben an die ewige Prosperity fasziniert ist. 
 
 

Rückschläge stören nicht

Wall Street wird zum Idol der Masse. Das Wort allein zieht alles in seinen Bann. Und neue Gelder, oft nur geborgt, fließen der Börse zu. Ein neuer Aufstieg beginnt. Computer und Handys, diese Verkaufsschlager der neunziger Jahre, Zeichen und Stützen des Glaubens an den technischen Fortschritt und damit an die Prosperity, verzeichnen neue Absatzrekorde. Die Aktien dieser Gesellschaften steigen deshalb zuerst und leiten einen neuen Taumel an der Börse ein. 

Wohl gibt es manchmal Rückschläge, aber die stören nicht. Sie werden schnell wieder wettgemacht. Das Spekulationsfieber erfaßt das ganze Land, das erfüllt ist von Geschichtchen über die Börse und über den Reichtum, den viele Bürger durch sie erlangt haben. Der Friseur versteht mehr von Börsenpapieren als von seinem Handwerk, Frauen treiben ihre Männer zur Eile an, damit sie nicht zu spät kommen beim Rennen um den Reichtum. Die Nachrichten über die Börse erscheinen an erster Stelle in den Zeitungen, bilden oft die Schlagzeilen. 

Bei all dem werden immer mehr Kredite zu Investitionen an der Börse in Anspruch genommen. Amerika erlebt eine Kreditinflation höchsten Grades - und will es nicht merken, zumindest nicht an deren Folgen denken. Erst im Juni kommt es zu größeren Rückschlägen, und ein konservatives New Yorker Blatt schreibt: "Die Wall-Street-Hausse brach mit einer Detonation zusammen, die über die ganze Welt gehört wurde." Aber diese Meldung bestätigt sich nicht. 

Im November 1999 gibt es einen neuen Kursanstieg, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Früher war es der Traum der Makler, einmal einen Tag zu erleben, an dem fünf Milliarden Aktien umgesetzt werden. Dies ist jetzt so regelmäßig der Fall, daß es schon langweilig wird. Am 23. November 1999 wechseln fast sieben Milliarden Aktien ihre Besitzer. Aber selbst ein so alarmierendes Zeichen reicht nicht aus, Beunruhigung hervorzurufen. Die Amerikaner kaufen Anteile am künftigen Wohlstand des Landes auf Abzahlung. Die Abschaffung der Armut steht ja unmittelbar bevor. 

Anfang 2000 gibt es zwar wieder einen Zusammenbruch, aber auch der geht vorüber. Das Federal Reserve Board glaubt weniger und rechnet mehr. Eine weitere Erhöhung des Diskonts ist nicht möglich. Dadurch würde zwar die Spekulation eingeschränkt, aber auch die wirkliche Wirtschaft empfindlich gestört. Das ausländische Geld würde noch mehr angelockt und der Zahlungsmittelumlauf erhöht. Aber das Federal Reserve Board findet ein Hintertürchen: Am 2. Februar 2000 veröffentlicht es eine Erklärung, daß die Reserven der Mitgliedsbanken nicht dazu da sind, um Spekulationskredite zu gewähren. Solche Kredite sollen eingeschränkt werden. 

Die Folge dieser Erklärung ist zunächst ein Kurseinbruch an der Börse. Aber da nur langfristige Kredite gesperrt sind, wird "tägliches Geld" in Anspruch genommen. Der Zinssatz hierfür steigt schnell. Am 26. März springt er von zwölf auf 15 Prozent, dann auf 17 und 20 Prozent. Die Banken scheuen sich nicht, den Kreditnehmern die Wege zu ebnen. Denn mittlerweilen ist der Kreditapparat so aufgeblasen worden, daß er über kurz oder lang platzen muß. Aber das wollen die Banken so lange wie möglich hinausschieben. 

Der Glaube an die Prosperity treibt neue Blüten. Und eine Betrachtung der Börsenentwicklung zeigt, so meinen die Amerikaner, daß es nur darauf ankommt, gute Aktien zu kaufen und durchzuhalten. Wenn es einen Kurseinbruch gibt, dann darf man nicht verkaufen, denn auf das Sinken der Kurse folgt immer ein neuer Anstieg, der über den früheren Höchststand noch hinausführt. Mr. J. Miller, ein großer Finanzmann, schreibt in "Ladies Home Journal" einen aufsehenerregenden und zur Spekulation anregenden Artikel, der die verlockende Überschrift trägt: "Everybody ought to be rich". Und wie zu Zeiten John Laws Frankreich, so wird jetzt Amerika vom Wahn des Reichtums erfaßt. Chauffeure hören nur mit einem Ohr auf die Signale der übrigen Verkehrsteilnehmer. Sie versuchen vielmehr, von den Fahrgästen einen Börsentip aufzuschnappen. 
 
 

Armut wird abgeschafft

Der Chauffeur eines Maklers verdient eine Viertel Million an der Börse mit den Tips seines Arbeitgebers. Eine Krankenpflegerin nutzt die Tips dankbarer Patienten und verdient 30.000 Dollar. Eine ehemalige Schauspielerin schmückt ihre Räume mit graphischen Darstellungen über die Kursentwicklung. Amerika wird der Welt zeigen, daß die Armut wirklich abgeschafft werden kann. Aber Anfang September 2000 zeigen sich doch dunkle Wolken an dem bis dahin so makellos blauen Wall-Street-Himmel. Die Aktien geben nach, und zwar zum Teil ganz erheblich. Aber es tritt bald wieder eine Erholung ein, und am 2. Oktober erreichen die Maklerkredite die Riesensumme von 200 Milliarden Dollar. 

Aber so richtig will das Rezept nicht mehr stimmen, daß einem Rückgang der Kurse um einen Punkt ein neuer Aufstieg um zwei Punkte folgt. Doch die meisten sind immer noch optimistisch, darunter auch die Fachleute der Harvard Economic Society. Und am 17. Oktober 2000 hält Professor Irving Fisher eine Ansprache, in der er ausführt, daß in wenigen Monaten der Aktienmarkt "a good deal higher than it is today" läge. Nur wenige, darunter der Finanzredakteur der "New York Times" sagen ein weiteres Nachgeben der Aktienkurse voraus. 

In Wirklichkeit aber tritt die von den Experten vorausgesagte Erholung nicht ein. Statt dessen beginnt jene Reihe unglücklicher Tage, deren markanteste der 24. Oktober, ein Donnerstag, und der 29. Oktober, ein Dienstag, sind. Ihnen folgt der Aschermittwoch des Wall-Street-Karnevals, der 30. Oktober 2000. 

Am 24. Oktober, einem Donnerstag, sind bei Eröffnung der Börse die Kurse niedrig, aber verhältnismäßig fest. Doch bald werden so viele Aktien zu diesen niedrigen Kursen angeboten, daß die Kurse nachgeben müssen, erst langsam, dann immer schneller. Der Grund für diese Verkäufe ist in der ersten Börsenstunde noch nicht etwa die Furcht vor einem allgemeinen Zusammenbruch. Es handelt sich um Zwangsverkäufe der auf Kredit gekauften Aktien, da diese Kredite zurückgezahlt werden müssen. 

Aber nach diesem Präludium kommt die Angst. Und dann steigen die Verkaufsorders unerwartet zur Flut an. Der Ticker hinkt nach. Und in den Maklerbüros werden die Kurse der Verkaufsaufträge laut verlesen. Sie liegen alle niedriger, als der Ticker noch angibt. Dadurch steigt die Panik. Der Zusammenbruch ist da. Amerika blickt in den Abgrund, in dem die Trümmer des Traums vom schnellen Reichtum liegen. 

Kurz nach Mittag findet gegenüber der Börse, in Wall Street Nr. 1, im Haus der Bankfirma 1. P. Morgan und Co., eine Lagebesprechung führender Bankiers statt. Es wird beschlossen, eine Stützung der Kurse vorzunehmen, wenigstens der wichtigsten Papiere. Die Reporter bestürmen den Teilhaber des Bankhauses Morgan, Thomas W. Lamont. Und während an der Börse die Panik tobt, gibt Lamont jene betont bagatellisierende Erklärung ab: "Es hat einige Notverkäufe an der Börse gegeben, und wir haben eine Sitzung der Vorsitzenden mehrerer Finanzinstitute abgehalten, um die Lage zu erörtern. Wir haben festgestellt, daß kein Haus in Zahlungsschwierigkeiten ist, und die Berichte der Aktienhändler beweisen, daß die Risiko-Reserven in befriedigender Höhe gehalten wurden." 

Diese Erklärung von so berufener Seite wirkt zunächst beruhigend. Später gibt Richard Whitney, der Vizepräsident der New Yorker Börse und die ausführende Hand der Bankengruppe bei den Maklern der wichtigsten Werte Kaufaufträge. Das wirkt weiter beruhigend. Aber es gelingt nur, die Preise einigermaßen auf ihrem tiefen Punkt zu halten. Zu einer Steigerung fehlen Maklern wie Publikum nach diesem Schock die Kraft und der Mut. 
 
 

Der Zusammenbruch

Bis in den Abend hinein laufen die Tickers in den Maklerbüros. Viele sind aus dem Rennen bereits hinausgeworfen. Aber am Montag setzt ein weiterer Sturz ein, und am Dienstag, dem 29. Oktober 2000, schlägt mit dem Gong, der die Eröffnung der Börse ankündigt, die Todesstunde der Prosperity und des "Big Bull Market". Die Kurse erholen sich nicht mehr. 

Die Insolvenzspalten in den Zeitungen muß vergrößert werden, unbekannte Amerikaner, Opfer eines Massenwahns vom leicht erreichbaren ewigen Glück.

Die Kreditblase ist geplatzt, das Spekulationsgebäude zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Milliarden von Dollar sind einfach verschwunden. Die amerikanische Massenillusion ist entzaubert, die Prosperity zu Ende gegangen, und die Krise beginnt. 
 
 

© DIE WELT vom 02. August 2001

http://www.jopo-boerse.de/bkrach.htm


Dem ein oder anderen wird dies vielleicht bekannt vorkommen ? Völlig zurecht denn...