Wirtschaftslage in den USA
Dr. Kurt Richebächer, früher Chefökonom
der Dresdner Bank, hielt die folgende Rede auf einem Seminar der EIR-Nachrichtenagentur
am 5. November 2001 in Berlin. Wir haben den Text hier etwas gekürzt.
Die ganze Rede wird in einem EIRNA-Bericht zusammen mit den anderen Beiträgen
veröffentlicht werden.
Wahn und Wirklichkeit
Die tatsächliche Lage der amerikanischen
Wirtschaft
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
-- à propos Generationen. Ich bin groß
geworden in einer Zeit, als die Volkswirte die Aufgabe hatten, nachzudenken.
Sie müssen bedenken: Die alte Generation hatte wenig Statistik zur
Verfügung, und schon das zwang zum Denken. Aber besonders unter amerikanischem
Einfluß hat die Statistik so sehr um sich gegriffen, ist so überwältigend
geworden, daß das Denken vollkommen aufgehört hat. Das intellektuelle
Niveau in der ökonomischen Diskussion ist heute für mich das
niedrigste seit 200 Jahren (vor etwas über 200 Jahren erschien Adam
Smith mit seinem Wealth of Nations). Die Amerikaner haben schon in den
20er Jahren die Theorie aufgegeben. Es gibt nicht einen großen amerikanischen
Nationalökonomen; es gibt jede Menge Nationalökonomen aus England,
aus Schweden, aus Österreich -- aber nicht einen aus Amerika. Nun
zur Sache.
Nach herrschender Meinung hat die amerikanische
Wirtschaft in den vergangenen Jahren eine große Renaissance erlebt,
die Wunder der Produktivität und der Gewinne vollbracht hat. Ich habe
die Sache immer im Auge behalten, und ich habe festgestellt, daß
die Wunder im Grunde nur in der Statistik, aber überhaupt nicht in
der Wirtschaft stattgefunden haben.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Gewinnentwicklung
der letzten Jahre ist die mieseste der gesamten Nachkriegszeit. Jetzt werden
Sie fragen: "Wie ist denn das möglich?" Das kann ich Ihnen sehr einfach
sagen: Es gibt in dieser Sache zwei Zahlenreihen -- "Reihe" ist schon übertrieben:
es gibt eine Reihe, und das andere ist Stückwerk. Also: Das worauf
jeder schaut, was Schlagzeilen macht, das sind die Berichte der Unternehmen.
Und diese Berichte sind in einem Maße frisiert, daß sie keinerlei
Beziehung zur Realität haben. Die Amerikaner sind heute an dem Punkte,
wo die Unternehmen sogenannte Pro-forma-Gewinne mitteilen. Pro-forma-Gewinne
sind errechnete Gewinne, bei denen jede beliebige Kostenart weggelassen
wird, vor allen Dingen Zinskosten und Abschreibungen, die ausgegliedert
werden nach dem Motto, diese Kosten spiegelten nicht die organische Entwicklung
wider. Vodafone machte neulich Schlagzeilen: "Gewinnanstieg 40%." Das war
aber nur der "EBITDA-Gewinn", das heißt Einnahmen ohne Zinsen, ohne
Steuern, ohne Abschreibungen, ohne Amortisation. Außerdem müssen
Sie eines bedenken: Warum führen die amerikanischen Unternehmen alle
diese Akquisitionen und Mergers durch? Das Ziel besteht darin, Gewinne
zu kaufen. Die wollen keine Synergien. Die wollen Gewinne kaufen, und diese
werden dann dem eigenen Gewinn zugeschlagen. Das macht man zehn Mal im
Jahr. Dann wird das extrapoliert, und Sie erhalten die wunderschönsten
Gewinnkurven und bewundern die ungeheure Rentabilität der amerikanischen
Wirtschaft. Mich stört, daß nicht ein Mensch aufsteht und sagt:
"Das ist doch alles Quatsch."
Denn es gibt eine andere Zahlenreihe. Und das ist
die Zahlenreihe, an die ich mich als Volkswirt halte. Das ist die Zahlenreihe
der amtlichen Statistik, der amtlichen Sozialprodukt- und Einkommensstatistik.
Die kommt jeden Monat heraus und ist sehr ausführlich. Da können
Sie, aufgeteilt nach 20 Branchen, in Details die Zahlen haben -- und dies
sind die Zahlen, nach denen ich mich richte. Tatsache ist folgende: Die
amerikanischen Gewinne sind scharf angestiegen von 1990, der Rezession,
bis 1994. Mehr als 50% dieses Gewinnanstiegs von insgesamt 66% kam von
Zinssenkungen. Der Rest kam von fallenden Abschreibungen, die ihren Grund
darin hatten, daß die amerikanische Wirtschaft Ende der 80er Jahre
aufgehört hatte zu investieren. Und das übersetzte sich jetzt
in sinkende Abschreibungen, sinkende Zinsen und explodierende Gewinne.
Aber der Gewinnanstieg hörte bereits im Jahre 1994 auf. In den nächsten
fünf Jahren bis 2000 stiegen die Gewinne nur noch um 22%. Wie gesagt,
das sind die amtlichen Gewinnzahlen. Und danach hatten die Amerikaner in
den vergangenen fünf, sechs Jahren für eine "Hochkonjunktur"
die mieseste Gewinnentwicklung aller Zeiten. In den Jahren 1998/99 gab
es eine leichte Besserung. Aber seit dem 3. Quartal vergangenen Jahres
erleben wir den steilsten Gewinnsturz aller Zeiten -- im übrigen auch
bei den Gewinnen, welche die Unternehmen berichten. Denn diese Unternehmen
haben in der Vergangenheit, aus ihren Akquisitionen, gewaltige Aktivposten
in Form von "Goodwill" gebildet. Sie haben ja alle anderen Fabriken aufgekauft
zu Überpreisen. Die mußten sie irgendwie in der Bilanz unterbringen,
und das geschah, indem man sie auf die Aktivseite als einen immer größeren
Posten "Goodwill" einsetzte. Und da nun die Gewinne einfach verschwinden,
muß man den "Goodwill" abschreiben. Sie wissen, Nortel hat 49 Mrd.
"Goodwill" abgeschrieben und andere Unternehmen 10 Mrd. Es sind unglaubliche
Zahlen, sofern sie sich um die Wahrheit bemühen. Aber es gibt kaum
jemanden, der sich um die Wahrheit bemüht.
Was ist mit dem Produktivitätswunder? Produktivitätswunder
und Gewinnwunder sind ja in unseren Vorstellungen eng miteinander verkoppelt.
Das eine Wunder fand so wenig statt wie das andere. Mir fiel als erstes
auf: Es waren ja immer die Zahlen über den gewaltigen Investitionsboom.
In den letzten Jahren lag die Investitionsquote der Amerikaner bei 35%
der Wachstumsrate. Auf der anderen Seite gab es Null Ersparnisbildung,
zusammenbrechende Ersparnisbildung. Für mich ist es logisch ein Unding,
daß man zugleich einen Investitionsboom und zusammenbrechende Ersparnisse
haben kann. Das ist nicht möglich, denn ich kann nur investieren,
wenn ein anderer spart und mir dadurch die Ressourcen freigibt für
meine Investition. Das war also von vorneherein ein totaler Unfug. Aber
niemand nahm Anstoß daran, denn, wie gesagt, theoretisches Denken
ist völlig abhanden gekommen. Als nächstes fielen mir die Computerinvestitionen
auf. Es wird dauernd gesagt, gewaltige Computerinvestitionen bringen Produktivität.
Ja, das tun sie auch. Aber wie? Ich verglich nominale Ausgaben für
Computer und reale Ausgaben in den beiden Sozialproduktrechnungen. In der
nominalen Statistik haben die Investitionsausgaben der amerikanischen Unternehmen
für Computer in der Zeit von 1997 bis 2000 34 Mrd. Dollar betragen.
Das ist gar nichts für eine Volkswirtschaft von 10000 Milliarden Dollar
BIP. Aber in der Realrechnung des Sozialprodukts stehen keine 34, sondern
214 Mrd. Dollar. D.h. in der Realrechnung wurden aus einem für Computer
ausgegebenem Dollar fast sieben Dollar. Wie ist das möglich?
Hedonischer Preisindex und andere Operationen
Die Amerikaner haben in den 80er Jahren beschlossen,
bei der Berechnung der Investitionsrate mehr und mehr Qualitätsverbesserungen
zu berücksichtigen, und das nennen sie den hedonischen Preisindex.
Beim Computer war das nun schon seit Jahren im Gang, aber ab 1995 begann
eine förmliche Explosion in den Computerleistungen. Ich bin da ein
totaler Laie, aber es geht wohl um Memory (Speicherkapazität) und
um Geschwindigkeit und alle diese Dinge. Das explodierte. Und mit der Computerleistung
explodierte die Berechnung der Investitions- und Produktionszahlen für
Computer: Sie versiebenfachte sich. Aus 34 Mrd. wurden in der Statistik
214 Mrd. Diese 214 Mrd. machten 20% des realen Sozialproduktwachstums aus.
Das war also schon ein dicker Posten. Der zweite Schlag kam dann vor zwei,
drei Jahren. Da beschlossen die amerikanischen Statistiker, daß Software-Ausgaben
eigentlich nicht als Kosten, sondern als Investitionsausgaben zu betrachten
seien. Das gab noch einmal 70 Mrd. in die Sozialproduktrechnung hinein.
Sie müssen bedenken: Kosten gehen nicht ins Sozialprodukt. Ins Sozialprodukt
gehen nur Endausgaben. Aber als Investitionsausgaben gehen sie nun ins
Sozialprodukt, und insgesamt ergab sich dann aus hedonischem Preisindex
plus Kapitalisierung der Software -- auf dem Papier -- ein Investitionsboom
von 25% des Wachstums oder 1% des Sozialprodukts. Dann gab es eine dritte
Operation. Im Jahre 1995 empfahl die Boskin-Kommission Verbesserungen der
Berechnung der Inflationsraten unter stärkerer Berücksichtigung
etwaiger Qualitätsverbesserungen. Da ging es sehr kompliziert zu.
Insbesondere die Mieten wurden plötzlich ganz niedrig. Auf diese Weise
kamen weitere 0,8% Sozialprodukt zustande.
Wenn Sie jetzt diese drei Dinge zusammenrechnen,
dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß im Grunde der ganze Investitionsboom
überhaupt nicht stattgefunden hat, außer in diesen statistischen
Veränderungen.
Ich persönlich habe vor allen Dingen auch
den hedonischen Preisindex abgelehnt. -- Die Idee scheint ja plausibel
zu sein: Mehr Leistung muß berücksichtigt werden. Allerdings
sind diese hedonischen Dollars, die immerhin eine gute Portion des Wachstums
ausmachten, Dollars, die kein Mensch ausgibt, kein Mensch einnimmt und
keiner sieht. Es sind Dollars ohne jede Spur von wirtschaftlicher Wirkung.
Und deswegen habe ich diese Behandlung immer als groben Unfug betrachtet.
Aber es führte zu diesen phantastischen Zahlen, nicht nur beim Sozialprodukt,
sondern auch bei der Produktivität. Denn jede statistische Berechnung,
die das Sozialprodukt erhöht, geht mit gleicher Menge von Dollars
in die Produktivität hinein. Und so hatten sie plötzlich nicht
nur ein Wachstumswunder, sondern auch das berühmte Produktivitätswunder.
Noch ein anderer Punkt: Die Amerikaner bauen keine
Fabriken mehr. Der Investitionsboom fand nur auf dem beschriebenen Wege
in Computern statt. Das hat nun aber zu einer gewaltigen Veränderung
in der ganzen Investitionsstruktur geführt. Es wird immer weniger
kurzfristig investiert, und langfristig überhaupt nicht mehr. Das
erhöht zwar am Anfang das Sozialprodukt über Bruttoinvestitionen,
aber dann kommen die Abschreibungen, und die schießen immer schneller
in die Höhe, je länger dieser Prozeß dauert. Wir sind jetzt
an dem Punkt, wo die Abschreibungen in Amerika die Investitionen überholt
haben. Amerika hat heute negative Nettoinvestitionen, und das gesamte Sozialprodukt,
ohne Abschreibungen, ist längst im Minus. Das amerikanische Sozialprodukt
ist in den letzten drei Jahren um 14% gestiegen, aber die Abschreibungen
sind um 34% gestiegen. Das heißt, Amerika ist hauptsächlich
damit beschäftigt, seine Abschreibungen zu verdienen. Das bringt in
der Statistik auch noch Wachstum, obwohl es eigentlich nur darauf hinausläuft,
alte Maschinen zu ersetzen.
Produktivitätswunder hat nie stattgefunden
Was nun die Gewinne betrifft, so muß man
bedenken, daß natürlich der hedonische Preisindex keinen einzigen
Dollar in die Kasse bringt. Da kommt kein Gewinn zustande. Die Kapitalisierung
der Software dagegen ging voll und ganz in die Gewinne. Denn plötzlich
werden Kosten weggenommen und als Investitionsausgaben aktiviert. Das hat
die Gewinne erhöht. Bemerkenswert ist, daß die Gewinnentwicklung
trotz dieser Verschönerung einfach katastrophal ist. Insofern stellt
sich die Frage: Wieso verlaufen die Gewinne so schlecht? Eine einfache
Antwort ist: Das Produktivitätswunder hat nie stattgefunden. Es hat
eben nur in der Statistik stattgefunden, aber nicht in der Wirtschaft.
Es gab statistischen Zuwachs, aber keinen echten Produktivitätszuwachs
für die Unternehmen. Prosperität kommt nicht von Produktivitätswundern,
sondern sie kommt vom Sparen und vom Investieren. Die industrielle Prosperität
hatte ihren Grund darin, daß man riesige Fabriken bauen mußte,
um diese Maschinen herzustellen. Bedenken Sie, was man investieren mußte,
um die Elektrizität herzustellen. D.h. die Prosperität kommt
vom Investieren, und nicht ohne weiteres von der Produktivität. Wenn
ich zusätzlich Produktivität erhalte, dann ist das prima. Aber
die Prosperität kommt von der Kapitalbildung, die stattfindet: vom
Bau der Fabriken und dem Bau der Maschinen. Es ist die Tätigkeit,
die Einkommen entstehen läßt. Die Prosperität kommt von
der Einkommensbildung und nicht automatisch von der Produktivität.
Die Kapitalausgaben sind somit der Kernpunkt bei all diesen Dingen. Und
die sind eben in Amerika minimal, wenn sie diesen statistischen Hokuspokus
wegnehmen. Der andere Punkt ist der, daß in meinen Augen diese berühmte
Shareholder-Value-Kultur die schlimmste Mißkultur darstellt, die
es je im wirtschaftlichen Denken gegeben hat. Akquisitionen und Mergers
sind schließlich kein Ersatz für Kapitalbildung und Investitionen.
Diese Unternehmen haben en masse diese Akquisitionen betrieben, um nicht
zu investieren. Ich sage immer: "Restrukturing" und "Downsizing" und all
diese schönen Worte sind bloß Synonyme für "Nichtinvestieren".
Und aus diesem Grunde fehlt es in den USA an Kapitalbildung. In einem Lande,
wo nicht gespart wird, kann es ja auch gar keine Kapitalbildung geben,
höchstens auf dem Papier.
Und daher bin ich der Meinung, daß diese
Technik, die so gerühmt wird für ihre Produktivität, gar
keine Profite generiert. Wenn Sie heute die Nasdaq-Unternehmen nehmen und
all die Abschreibungen berücksichtigen, dann haben diese Unternehmen
seit 1995 keinen Pfennig verdient. Sie sind alle in den roten Zahlen. Das
waren Scheingewinne in der Vergangenheit, die sie großenteils aus
dem Aktienmarkt geholt haben. Sie haben ihre Gewinne im Aktienmarkt gemacht,
haben dann andere Unternehmen gekauft, und die Gewinne wurden aufeinandergetürmt.
Das waren alles Papiergewinne, Scheingewinne, keine Gewinne aus Produktion
und Produktivität. Es war alles Betrug. Und insofern sehe ich das
Problem in der Technik. Die Amerikaner haben geglaubt, das muß doch
eine wunderbare Technik sein, für die man so wenig tun muß.
Da kann man 50% mehr produzieren, von heute auf morgen, und dann sind wir
alle reiche Leute. Wir haben geglaubt, daß diese Technologie besonders
gut sein muß, weil sie so wenig kostet. Aber das ist der Grund, warum
sie auch keinen Gewinn bringt. Gewinne können nur über Ausgaben
entstehen. Ich sage immer: Die Hauptgewinnquelle sind kapitalisierte Ausgaben.
Und wenn ich keine kapitalisierten Ausgaben habe, kann ich keine Gewinne
machen. Und diese Quelle fließt nicht bei dieser neuen Technik. Sie
fließt auch nicht von dieser neuen Shareholder-Value-Kultur, die
ja andere Transaktionen vorzieht. Ich lese immer wieder, was die amerikanische
Notenbank alles unternimmt: neun Zinssenkungen, demnächst die zehnte
Zinssenkung. Und dann sage ich: Aber liebe Leute, allmählich ist es
doch Zeit, einmal darüber nachzudenken, warum diese Zinssenkungen
überhaupt keine Wirkung haben -- abgesehen davon, daß sie im
Moment den Aktienmarkt hochtreiben. Nebenbei gesagt, die Aktien werden
immer teurer, da die Gewinne nämlich noch viel schneller als die Aktienkurse
gefallen sind. Im Transportsektor zahlen sie das 800fache für die
Gewinne, vielfach sind ja gar keine Gewinne mehr da, und bei Utilities
(Versorgungsunternehmen für Wasser, Strom etc.) bezahlen sie das 60fache.
Bei Dow-Jones-Firmen zahlen sie das 35fache, und das bezieht sich wohlgemerkt
auf die frisierten Gewinne. Die Gewinne sagen mir, wohin die Wirtschaft
geht, nicht der dämliche Index von der Michigan University über
die Stimmung der Konsumenten. Nicht der Konsument, wie die Amerikaner glauben,
sondern die Gewinne und die Investitionen der Unternehmen sind entscheidend.
Der Konsum kommt dann von selber.
Die andere erstaunliche
Sache: Alle Rezessionen der Vergangenheit hatten ein und dieselbe Ursache.
Steigende Inflationsraten zwangen die Notenbank, die Bremse zu ziehen,
und es kam zu drastischen Kreditrestriktionen. Scharf rückläufige
Kredite führten zum Abschwung. Das ist die Ursache einer jeden wirtschaftlichen
Rezession der Nachkriegszeit in Amerika und in Europa gewesen. In Amerika
hat aber überhaupt keine Verlangsamung der Kreditexpansion stattgefunden.
In den Boom-Jahren lag die Kreditexpansion des privaten Sektors in Amerika,
also der Unternehmen und der Konsumenten, bei über einer Billion Dollar
pro Jahr. Bis 1997 waren die Kredite um etwa 700 Mrd. Dollar gewachsen.
Seit 1998 wachsen sie pro Jahr um über 1000 Mrd. Dollar. Aber diese
tausend Mrd. Dollar bringen gar nichts mehr. Das Komische ist: Sie haben
ein scharf rückläufiges Wirtschaftswachstum, sie haben zusammenbrechende
Gewinne, sie haben zusammenbrechende Investitionen, aber sie haben eine
Geld- und Kreditexpansion, die alle Rekorde schlägt. Die breite Geldmenge
wächst um 13,5% -- Kreditwachstum von 1000 Mrd. Dollar im privaten
Sektor -- im finanziellen Sektor ist auch noch eine gewaltige Kreditausweitung
im Gange. Wir haben die tollste Kreditausweitung aller Zeiten, und dennoch
bricht die Wirtschaft einfach zusammen. Es wäre nun an der Zeit, einmal
darüber nachzudenken, wie es denn überhaupt zu dieser scharfen
Konjunkturabschwächung kommen konnte, während die Kredite und
die Geldmengen in unvermindertem Tempo weitergeflossen sind. Wie ist das
möglich? Ich will Ihnen sagen, warum: durch den Zusammenbruch der
Gewinne. Das ist die einzige plausible Erklärung. In Amerika fehlt
kein bißchen Geldmenge, kein bißchen Kredit. Früher, also
in den normalen Zeiten, kam auf einen Dollar Wachstum des Sozialprodukts
1,6 Dollar Kreditausweitung. Wir waren schon in den Jahren 1998/99 bei
vier, fünf Dollar Kreditausweitung pro Dollar zusätzlichem Sozialprodukt.
Heute sind wir bei Milliarden Dollar für nichts. Für mich lautet
die ganze Frage daher nicht: "Wie können wir die Kredite ankurbeln?"
Ja, wohin wollen sie denn noch mit den Krediten? Wir sind heute bei tausend
Milliarden. Wollen sie morgen auf 1500 Milliarden gehen? Der Punkt ist:
Die Kredite gehen nicht in die Wirtschaft. Und sie gehen nicht vom Unternehmen
in die Wirtschaft, weil die Unternehmen nichts mehr verdienen. Deswegen
sehe ich keine Besserung in dieser Beziehung. Der einzige, der bis jetzt
noch immer mehr gepumpt hat und die Konjunktur noch einigermaßen
hochgehalten hat, war der Konsument. Und die Amerikaner sind ganz stolz
darauf, daß der Konsument sein Haus immer mehr bis zum Schornstein
verschuldet. In Amerika ruft man seine Bank an und sagt: Der Wert meines
Hauses ist wieder um 10% gestiegen, ich möchte meine Hypothek um 10%
erhöhen. Drei Tage später haben Sie 30000 Dollar auf dem Konto.
So einfach geht das. Abertausende von Amerikanern haben das in den letzten
Wochen und Monaten gemacht. Und darauf sind die Amerikaner auch noch stolz.
Wo ist die Prosperität, wenn sie darin besteht,
daß die Konsumenten ihre Ausgaben nur steigern können, indem
sie ihre Haus beleihen? Das ist doch Schwachsinn. Ökonomisch ist das
unglaublich. Wenn Sie sich die Statistik ansehen, dann stellen Sie fest,
daß der amerikanische Konsument seit 20 bis 30 Jahren eine rapide
steigende Verschuldung auf sein Haus besitzt. Ich habe noch die Generation
der Amerikaner gekannt, die stolz darauf waren, wenn die Hypothek abbezahlt
war. Heute sind sie stolz darauf, wenn sie sie erhöhen können.
Und das steigt und steigt und steigt. Für mich ist das nun beim besten
Willen kein Zeichen von Wohlstand. Es ist das Gegenteil. Greenspan ist
im Kongreß gefragt worden: "Sagen Sie mal, ist das nicht problematisch,
steigende Häuserpreise, steigende Hypotheken?" Und da sagt Greenspan:
"Och, solange die Häuserpreise weitersteigen, steigt ja auch die Equity,
das Eigenkapital." Der fand gar nichts dabei. Man muß sich das vorstellen:
Die Häuserpreise erlauben steigenden Konsumkredit, und das wiederum
soll die Konjunktur retten.
Heute morgen war von Lösungen die Rede. Ich
gehöre zu denjenigen, die sagen: "Die Leute, die uns das eingebrockt
haben, sind nicht in der Lage, uns da wieder herauszubringen." Und nebenbei
gesagt: Es ist viel schwieriger, als wir glauben. Um nur ein Beispiel zu
nennen: Sehen Sie sich Japan an. Da wird immer gesagt, die Japaner weigerten
sich, zu restrukturieren. Das Problem Japans besteht darin: Die haben sich
in den Bubble-Jahren ihre Investitionsdynamik zerstört. Endgültig
zerstört. Aber auf der anderen Seite: Die Konsumenten sparen. Bei
Nullzins muß ich ja noch mehr sparen als vorher, um meinen Lebensabend
zu sichern. Im Grunde krankt Japan daran, daß es seine Investitionsdynamik
nicht mehr in den Griff bekommt. Aber es hat Konsumenten, die noch sparen.
Und wir haben sie in gemilderter Form ebenfalls. Wir haben immer noch Sparer,
aber immer weniger Investitionen. Die Amerikaner und die Angelsachsen im
allgemeinen sind in dieser Beziehung der krasse Gegensatz. Die sparen überhaupt
nicht, investieren auch nicht, aber sie haben Kreditsysteme, die bis zum
Exzeß darauf eingerichtet sind, Konsumkredit zu finanzieren. Die
amerikanischen Banken schicken jedes Jahr in Milliardensummen Kreditkarten
aus. Jeder Amerikaner bekommt jedes Jahr mindestens 50 Kreditkarten. Und
jede Kreditkarte hat eine Kreditlinie. Die Besonderheit Amerikas besteht
also darin, daß es ein Kreditsystem hat, das voll und ganz auf Konsumkredit
ausgerichtet ist. Und die Scheinprosperität der Amerikaner besteht
darin, daß sie immer weniger sparen, immer weniger investieren, immer
mehr konsumieren. Die alten Ökonomen nannten diesen Prozeß Kapitalkonsum.
Und das führt zwangsläufig zum wirtschaftlichen Niedergang. Aber
die Amerikaner haben soviel dämliche Europäer und Japaner und
andere Asiaten, die ihnen das Geld immer jeden Tag von neuem schicken.
Insofern geht das weiter. Wenn Sie genau hinsehen, stellen Sie fest: Der
Anstieg des Lebensstandards in den USA hat seinen alleinigen Grund in den
Auslandskrediten. Das ist die einzige Möglichkeit, den Lebensstandard
zu erhöhen. Denn der Durchschnittslohn des Amerikaners geht seit 1973
beständig zurück, und der Reallohn des Amerikaners liegt heute
mindestens 25% unter dem Standard von 1973.
Quelle: Neue Solidarität
Jg.28 Nr.46 21.11.2001
Dazu passend:
NASDAQ
100 Companies Report Combined Losses of over $82 Billion to the SEC, While
Reporting Profits of $19 Billion to Shareholders |