Geschrieben von R.Deutsch am 07. Juli 2001 10:40:13:
 

Japan und die USA im finanzkapitalistischen Dilemma 

 Geplatzte Blasen machen keinem Banker Kummer - und Ruhe ist auch dann die erste Bürgerpflicht. So schien es zumindest in   Japan, denn dort liegt der  Crash inzwischen schon zehn Jahre zurück und war fast in Vergessenheit geraten, weil sich die Weltwirtschaft davon lange Zeit   nicht sonderlich  beeinträchtigt zeigte. Von 1965 bis 1990 hatte der japanische Aktienmarkt eine stetige, zuletzt immer schnellere Aufwärtsbewegung   durchlaufen, die weit  über den realen Erfolg von Nippons Exportmaschine hinausschoß. Der Nikkei-Index der Börse in Tokio stieg um nicht weniger als   3700 Prozent auf fast  40.000 Punkte und die spekulative Börsenkapitalisierung wurde noch einmal übergipfelt von einem phantastischen Anstieg der   Immobilienpreise. Japan  hatte sich reich gerechnet. Als die Blase 1990 sowohl bei den Aktien als auch bei den Immobilien platzte, stürzten die Finanz- und   Immobilienmärkte ab und  haben sich nie wieder erholt. Der Nikkei wurde halbiert, um danach immer weiter nach unten zu trudeln. Bekanntlich sitzt das   japanische Finanzsystem  seither auf einer Masse fauler Kredite in der Größenordnung von 1000 bis 2000 Milliarden Dollar.  

  Eigentlich hätte die Konsequenz der Bankrott der großen Banken, der Zusammenbruch des Finanzsystems und eine schwere   Depression Japans mit  Rückschlag auf die Weltwirtschaft sein müssen. Wieso konnte diese Konsequenz für so viele Jahre vermieden werden? Dafür gibt   es vor allem zwei Gründe. 

 Erstens ermöglichte die vom Buddhismus und Shintoismus geprägte paternalistische Kultur Japans eine kollektive Manipulation   der Finanzmärkte und  Bilanzen, wie sie im westlichen Konkurrenzkapitalismus undenkbar wäre: Durch ein Geflecht von Loyalitäten und Abhängigkeiten,  Überkreuz-Beteiligungen, Mafia-Filz (Yakuza) und informellen Absprachen unter staatlicher Guide wurde ein Großteil der faulen   Kredite und nicht  realisierten Verluste in Auffanggesellschaften geparkt oder zu den Bilanzterminen auf Treu und Glauben zwischen den Banken und   Unternehmen durch  Scheinverkäufe hin- und hergeschoben.   Den Banken wurde erlaubt, die Eigenkapitalquote zu senken und Aktienpakete nicht zum Marktwert, sondern zum   Einkaufswert zu bilanzieren usw. Obwohl es trotzdem eine Pleitewelle gab, konnte auf diese Weise der große Bankenkrach   vermieden werden. Viele  tausende von eigentlich bankrotten Unternehmen vor allem in der Bau- und Immobilienbranche sowie im Einzelhandel wurden am   Scheinleben erhalten, ein  bis zwei Millionen Arbeitsplätze ohne ökonomische Basis durchgeschleppt. 

 Zweitens war es die Export-Einbahnstraße über den Pazifik in die USA, die Japan dazu verhalf, die Systemkrise 
 hinauszuschieben. Schon der vorherige Aufschwung war von einem wachsenden Exportüberschuß getragen gewesen, dessen   Löwenanteil die USA  aufgenommen hatten. Dem stand und steht bis heute kein gleichgewichtiger Warenstrom in die umgekehrte Richtung gegenüber,   sondern stattdessen eine  wachsende Außenverschuldung der USA - vor allem in Japan. Auch mit den Erlösen der weiter laufenden Exportwalze konnte sich   die japanische  Ökonomie über Wasser halten und ihr Finanzsystem vor dem Zusammenbruch retten. 

 Dennoch mußte von Anfang an ein Preis für die Vermeidung der Systemkrise bezahlt werden, nämlich zwar nicht die große   Depression, aber doch die  Stagnation der Konjunktur mit immer stärkeren deflatorischen Tendenzen. Die unter der Last fauler Kredite ächzenden Banken   zögerten mit der Vergabe  weiterer Kredite, die verschuldeten Unternehmen mit neun Investitionen, und die in großem Ausmaß mit geplatzten Hypotheken   belasteten und von  ungewohnter Arbeitsplatz-Unsicherheit geplagten Konsumenten übten sich in Kaufzurückhaltung - bei einem 60-prozentigen   Anteil des Konsums am  japanischen Sozialprodukt eine starke Konjunkturbremse. 

 Die japanische Regierung versuchte zwischen 1991 und 2000 mit nicht weniger als zehn keynesianischen Konjunkturprogrammen -   völlig gegen den  neoliberalen ökonomischen Weltkonsens - vergeblich das Ruder herumzureißen.   Der einzige "Erfolg" bestand darin, daß Japan die Weltspitze der Staatsverschuldung übernahm: War der Staatshaushalt 1989/90   als leuchtendes globales  Vorbild noch mit insgesamt nur 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verschuldet und erzielte damals sogar einen jährlichen   Überschuß von 2,9  Prozent des BIP, so hält er inzwischen mit insgesamt 140 Prozent und einer jährlichen Neuverschuldung von 10 Prozent des BIP   einen Negativrekord. 

 Parallel dazu veranstaltete die Bank of Japan eine Zinssenkungsrunde nach der anderen, um schließlich zu einer paradoxen   "Nullzinspolitik" beim  wichtigsten Zinssatz, dem Tagesgeld, überzugehen: Die Banken konnten sich fast zum Nulltarif refinanzieren. An der   binnenökonomischen Stagnation  änderte sich dadurch nichts. Die verschuldeten Unternehmen und Haushalte nahmen trotz günstiger Konditionen keine neuen   Kredite für Investitionen und  Konsum auf. Umgekehrt zerstörte die Nullzinspolitik natürlich jeden Anreiz, Geld im Inland anzulegen. Die Wirkung war eine ganz   andere: Institutionelle und  private Anleger nahmen zu extremen Niedrigzinsen Geld auf, um es zu wesentlich höheren Zinsen im Ausland anzulegen. Japan   überschwemmte die  ganze Welt mit seiner wundersamen Liquiditätsschöpfung und heizte die globalen Finazmärkte an, während zu Hause nichts mehr ging. 

 Nur um wenige Jahre zeitversetzt durchliefen die Tigerstaaten Südostasiens denselben Krisenzyklus wie Japan. Seit Mitte der 80er   Jahre vom  Aufschwung des Exports getragen, der ebenfalls einseitig über den Pazifik in die USA ging, bildeten auch die neuen   "Wunderländer" auf dieser Grundlage  eine spekulative Blase bei Aktien und Immobilien, die bekanntlich 1997/98 platzte.   Und wie in Japan wurden die daraus resultierenden faulen Kredite und nicht realisierten Verluste mit Hilfe des asiatischen   Paternalismus unter dem Deckel  gehalten, während die weiterlaufenden Exportüberschüsse im Handel mit den USA der Kompensation dienten. Zwei Jahre später   gab es allgemeine  Entwarnung: Die Asienkrise, so hieß es, sei überwunden und die Bank of Japan sah das Konjunkturtal durchschritten, erhöhte   erstmals seit zehn Jahren die Zinsen und kündigte marktöffnende Reformen an. 

 Umso größer der Katzenjammer, als parallel zu einem dramatischen Absturz der Aktienmärkte in den USA, Europa und Japan im   Frühjahr 2001 der  japanische Finanzminister mit einer für asiatische Verhältnisse außergewöhnlich undiplomatischen Offenheit plötzlich wie aus   heiterem Himmel verkünden  mußte, das Finanzsystem seines Landes stehe kurz vor dem Kollaps. Welche Veränderungen sind für diese unerwartete Wendung verantwortlich? 

 Japan ist von seinem lange verdrängten, aber nie wirklich bewältigten Crash des Jahres 1990 eingeholt worden. Die   Verzögerung der Systemkrise war nur unter der Bedingung möglich, daß irgendwann die Binnenkonjunktur wieder anspringt.   Alle Versuche, diesen Start mit Hilfe staatlicher Geldspritzen zu bewerkstelligen, sind nun ausgereizt. Der durch diesen Mißerfolg   mitbedingte neuerliche  Verfall des Nikkei-Index um mehr als 30 Prozent seit Beginn des Fiskaljahres 2000/01 hat den Banken zusätzliche unrealisierte   Wertverluste in bis zu  zehnfacher Höhe der angestauten faulen Kredite eingebracht. Bei der anstehenden jährlichen Bilanzierung wird ein massiver Abzug   von Guthaben  verunsicherter Bankkunden befürchtet. Schlagartig ist der Druck gestiegen, der verzögerten "Bereinigung" von   Unternehmenssektor und Arbeitsmarkt  endlich freien Lauf zu lassen. Der Optimismus der Bank of Japan hat sich als grandiose Fehleinschätzung erwiesen. 

 Gleichzeitig droht aber auch der andere Motor der japanischen Krisenverhinderung ins Stocken zu geraten, nämlich die   Exportmaschine in die USA. Die  geplatzten Blasen Japans und der Tigerländer konnten ja nur deshalb über Jahre hinweg kompensiert werden, weil die Blasen in   den USA (und parallel  dazu in Europa) noch munter weiter aufgebläht wurden. Nur durch den permanenten Zufluß ausländischen Geldkapitals und die   ebenso permanente  Steigerung der Aktienwerte konnten die USA die Überschüsse der ganzen Welt importieren und die notleidenden   Volkswirtschaften stützen. Seit März  2000 aber sind die "neuen Märkte" der High-Tech- und Internet-Werte um 60 bis 80 Prozent abgestürzt genau ein Jahr später   scheint nun auch der Verfall  der Standardwerte begonnen zu haben. 

 Zweckoptimistisch wird allgemein behauptet, daß die Krisenkurve Japans 1990 und der Tigerstaaten 1997/98 nicht mit derjenigen in   den USA heute zu  vergleichen sei die US-Ökonomie sei viel resistenter. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der spekulative Boom in den USA wurde   nicht auf einen Exportboom  aufgesattelt, sondern umgekehrt auf ein mit Außenverschuldung bezahltes gigantisches Handelsdefizit. Insofern ist die   Tiefendimension der US-Krise viel  schlimmer. Zwar hat es in den USA keine zusätzliche Blase am Immobilienmarkt gegeben wie in Asien, dafür aber die zusätzliche   und viel größere Blase  der "New Economy". Und hatte Japan 1990 noch eine Sparquote von 16 Prozent, so ist sie heute in den USA gleich Null oder sogar   negativ. Selbst die viel  gepriesenen Überschüsse des US-Staatshaushalts in den letzten beiden Jahren liegen mit 2,3 Prozent des BIP unter den damaligen   japanischen. 

 Vor allem aber: Die Unternehmen und Konsumenten sind in den USA wesentlich höher verschuldet als es die asiatischen jemals waren. Im Vertrauen auf  weitere Kurssteigerungen ihrer Aktien-Portfolios haben die US-Privathaushalte bis Herbst 2000 praktisch den Konsum mehrerer   Jahre vorweggenommen.  Und zusätzlich zu den ohnehin schon aufgehäuften Schulden haben viele Unternehmen der IT-Branche seit dem Beginn der   Talfahrt an der Nasdaq in der  falschen Hoffnung auf eine baldige Trendwende eigene Aktien im großen Maßstab zwecks Kurspflege auf Pump zurückgekauft   inzwischen ist ihre Lage  umso verzweifelter. Es war absehbar, daß der Prozeß der Privat- und Unternehmensverschuldung irgendwann den Prozeß der   Börsenkapitalisierung  überholen würde. Die anhaltende Flut von Gewinnwarnungen in allen Bereichen der US-Ökonomie (und inzwischen auch in   Europa) zeigt, daß das Limit  erreicht oder schon überschritten ist. Kapitalismus ohne Profit geht nicht. Und jetzt brechen auch die Umsätze in wichtigen Bereichen (wie z.B. bei  Mobiltelefonen) weg. 

 In der krisenhaften Verschränkung einerseits von Konjunktur und Börse auf der strukturellen Ebene, andererseits von Nordamerika   und Asien auf der  Ebene der Weltmarktbeziehungen, zeichnet sich somit die Möglichkeit einer   Eskalationsbewegung ab. Generell ist bei ökonomischen Rückwirkungen mit einer Inkubationszeit von sechs Monaten bis zwei   Jahren zu rechnen. Seit  Ende 2000 zeigen sich die ersten Brandspuren des Crashs an der Nasdaq in der US-Konjunktur. Diese Spuren wiederum haben den   Crash beschleunigt  und auf die Standardwerte übergreifen lassen. Als Folge der Abschwächung in den USA gehen nun Export und Investitionen in   Japan zurück, was dort  den Druck auf das Finanzsystem erhöht. In der Folge davon wiederum könnte, wie schon lange befürchtet, japanisches Geldkapital   aus den USA  abgezogen und dadurch der Abschwung der US-Konjunktur beschleunigt werden usw. Dieser Eskalation würde sich Europa kaum   entziehen können.  Nicht nur der Export in die USA und nach Japan würde zurückgehen, sondern auch der Export in alle vom japanischen und   US-amerikanischen  Abschwung betroffenen Volkswirtschaften - sowohl in Asien und Lateinamerika als auch innerhalb der EU selbst. 

 Hinter der Unberechenbarkeit der Erscheinungen und den wilden Ausschlägen der Finanzmärkte steht letzten Endes die   Entwertung der Arbeit und damit  die Entsubstantialisierung des Geldes durch die unbeirrt mahlende Mühle der 3. industriellen Revolution. Mit jedem partiellen   Crash wird die Systemkrise  reifer und dringt auch in den Zentren stärker an die Oberfläche. Wenn das globale Desaster abermals verzögert werden soll, muß   um jeden Preis der  Konsum in den USA und Japan angeschoben werden. 

 Das dürfte diesmal jedoch schwieriger sein als in der Vergangenheit. Das Platzen der US-Blase ist viel gravierender als das Platzen   der asiatischen Blase.  Denn die USA haben keine andere USA, um einen Crash außenwirtschaftlich zu kompensieren. Sicher könnten sie versucht sein,   ihre Probleme zu  exportieren. Für eine Exportoffensive fehlen ihnen als notorischem Importweltmeister aber die Produkte und Kapazitäten.   Außerdem müßten sie, um die  Krise exportieren zu können, den Dollar drastisch abwerten, was zu einem Abwertungswettlauf mit dem Yen, in der Folge mit   sämtlichen asiatischen  Währungen und schließlich auch mit dem Euro führen würde. Dieses durchaus realistische Szenario einer globalen Währungskrise   (die Yen-Abwertung  hat bereits begonnen) wäre erst recht verheerend für Konjunktur und Finanzmärkte. 

 So bleibt nur das alte Mittel der direkten und indirekten staatlichen Geldspritzen. Innerhalb weniger Wochen hat die US-Notenbank   (Fed) drei  Zinssenkungen vorgenommen und eine vierte angekündigt, Präsident Bush plant ein zehnjähriges Steuersenkungsprogramm von   1600 Milliarden Dollar pro  Jahr, und die Bank of Japan ist nicht nur zur Nullzinspolitik zurückgekehrt, sondern will die Kontingente der Geldversorgung   erhöhen und damit die  Refinanzierung der Banken erleichtern.   Es ist aber unerfindlich, warum in Japan jetzt plötzlich funktionieren soll, was bisher versagt hat, und warum die USA mit derselben   Methode besser  fahren sollen als Japan. Bushs Steuersenkung betrifft entweder nur Haushalte, deren Konsum bereits gesättigt ist, oder die frei   werdenden Gelder  müssen zur Sanierung der aufgelaufenen Schulden verwendet werden. Aus demselben Grund verpuffen die Zinssenkungen in den   USA und Japan,  denn das billige Geld wird eher für Umschuldungen im Unternehmens- und Privatsektor verwendet als für Investitionen und   Konsum. 

 Wenn also die Geldspritzen wirken sollen, müssen sie in einer wesentlich höheren Dosis verabreicht werden als bisher. Und dabei   muß auch die  Europäische Zentralbank (EZB) mitspielen, weil sich sonst die globalen Kapitalströme umkehren und so die Krise potenziert statt   verhindert wird. Neben  einem Abwertungswettlauf ist also ein Zinssenkungswettlauf denkbar. Der große Sündenfall gegen die monetaristische   Wirtschaftstheologie zeichnet  sich bereits ab als eine Art Börsenkeynesianismus, um durch ein synchrones Öffnen der Geldschleusen in allen drei großen   Wirtschaftsblöcken das  Finanzkapital und die davon abhängig gewordene Konjunktur zu retten. 

 Der Preis dafür wäre die Rückkehr der Inflation, die in den USA bereits jetzt bei einer Jahresrate von 3,5 Prozent liegt. Noch vor   wenigen Monaten hätte  dies Herrn Greenspan alarmiert und zu Zinserhöhungen veranlaßt, heute treibt ihn die Not zu einer genau entgegengesetzten   Politik. Geht es in diese  Richtung weiter, ist sogar die historisch einmalige Gleichzeitigkeit von Depression und Inflation möglich: nämlich eine Deflation der   Vermögenswerte durch  Aktiencrashs mit der Folge von Massenentlassungen und Massenbankrotten, während die am Markt verbliebenen Unternehmen   sich aufgrund ihrer Überschuldung trotzdem zu Preiserhöhungen gezwungen sehen. 
 

DER KING