Re: Herzlichen Dank! Der BEWEIS ist erbracht!


Geschrieben von dottore am 21. August 2002 14:53:45:

 Als Antwort auf: Re: Für @dottore gefunden - Der Zins in Babylon - Teil II geschrieben von Popeye am 21. August 2002 10:08:51:

>Time and the First Loan Contracts
>Most of the loans from second millenium Ur do not quote interest rates per month or per annum, but simply state the amount
>of interest due. Most loan contracts used the lunar calendar, and quoted the sum plus interest due at the end of the month.
>Interest payments were not thought of as rates per unit of time, but fixed prices for the use of the money, whether it be for a
>long or a short period.
 

 Lieber Popeye,

 das ist alles richtig. Nur es stammt, wie die sonstigen Beispiele auch, aus einer späteren Zeit, als sich der antike Kapitalismus dort bereits voll entwickelt hatte.

 Die Frage bleibt dennoch: Was war der Starter der Entwicklung? 

Untersuchen wir diese Stelle: 

"Debt is Good -- But For Whom?

 Second Millennium Ur may have been an early hothouse of capitalistic enterprize, but what of the borrowers mired in debt? The government may actually have preferred them this way." 

Warum preferred? Offenbar sahen die damaligen Herrscher genau so wie spätere, dass eine Wirtschaft unter Schuldendruck produktiver arbeitet als eine ohne Schuldendruck. 

Nur: Woher die Schulden nehmen?

Also was hätte ich als damaliger Herrscher getan, um Schulden zu schaffen und damit das BIP und damit wiederum meine Macht zu maximieren?

 Ich hätte die Menschen aus ihrer hauswirtschaftlichen Lethargie gerissen und ihnen zuerst mal eine saftige Abgabe verpasst. Schon beginnt hektisches Treiben. Leute, die nicht rechtzeitig an mich leisten, gehen in Schuldknechtschaft oder müssen Eigentum an mich abtreten. Da dies auf Dauer nicht optimal ist (Staatssozialismus, Staatssklaven) entlasse ich alle paar Jahre die Leute aus der Schuldknechtschaft und gebe ihnen ihr Eigentum zurück ("Erlassjahre"). 

Andere Leute, die Schuldknechtschaft etc. vermeiden wollen, werden versuchen, sich das Abgabengut zu leihen. Zunächst leiht man sich gegenseitig unverzinst (Überreste der stammeswirtschaftlichen Solidarität), dann wird verzinst, der Zins dabei vorab vereinbart, da sonst nicht vollstreckbar.

 So schaffe ich einen sich immer weiter verbreitenden Schuldendruck und eine immer produktivere Leistung aller. Genau wie heute auch.

 Zwei Probleme tauchen freilich auf:

1. Machtverlust innen.

2. Machtverlust durch außen.

Ad 1.

Als Herrscher lebe ich zunächst komfortabler als meine Leute. Kleiner Palast, kleine Leibgarde, kleine Inkassomannschaft. Die jetzt unter Druck immer produktiver arbeitenden Untertanen rücken allerdings immer stärker zu mir auf. Ich muss den Abstand wahren, baue stärkere Burg, umgebe mich mit den mehr Leibgarden. 

Das kann ich nicht mehr mit dem bisherigen Abgabensystem finanzieren (einfach Pro-Kopf-Steuer oder pro-Stück-Land-Steuer o.ä.). Ich muss jetzt entweder diese Steuer erhöhen (Murren!) oder ich muss eine ertragsabhängige Steuer einführen (weniger Murren, da ich ja immer sagen kann: Ihr habt mehr und müsst mir von dem Mehr halt prozentual etwas abgeben). 

Nun haben wir auch Leute, die im Schatten stehen und nicht erfolgreiche Kapitalisten sind. Nicht jeder ist ein Getty oder Gates. Die sehen die immer größer werdende Differenz zwischen ihrer eigenen Lage und der in welcher sich Herrscher und Erfolgs-Menschen befinden. Es beginnen die üblichen "sozialen Unruhen" (schönes Beispiel: die Gracchen). 

Die Unruhen richten sich noch nicht Mal gegen mich als Herrscher (habe mich inzwischen "abgehoben", bin Priesterkönig, Tempelbauer, Wohltäter usw.), sondern gegen die erfolgreiche Kapitalisten- und Großeigentümerschicht. Es wird kritisch (man beachte: die französische Revolution richtete sich zunächst nicht gegen das Königtum, sondern gegen Adel und Kirche - ecrazez l'infame!). 

Schlage ich mich auf die Seite des Volkes, riskiere ich, dass mich das Patriziat ("Adel" inzwischen) entmachtet, siehe endlose Kriege um die "Krone" through the ages (ein Pferd, ein Pferd, mein Königreich für ein Pferd...). 

Schlage ich mich auf die Seite der Fat Cats, muss ich die Landlords und schließlich War Lords unter Kontrolle halten. Weltgeschichte rauf und runter. 

Was tun?

 Ich werde versuchen, Vorgriffe auf Abgaben zu erhalten und lasse mich und meinen Machterhalt vorfinanzieren. Das bekannte Staatsschuldenproblem. Ende entweder Bankrott (Hundertfach in der Geschichte) oder immer weiter um sich greifende Stagnation (Phänomen des Staatsrentners), siehe heute. 

Irgendwann geht meine Macht zur Neige, ich werde gestürzt oder gehe ins Exil. 

Dann Neue an der Macht ("homines novi") mit gleichen Problemen und gleichem Durchlauf. 

Ad 2.

Die Machtbedrohung durch außen beschleunigt alles nur. Vor allem muss ich schneller zum Mittel der Verschuldung greifen (sehr schön: Karl V., aber auch jede Menge anderer Beispiele).

 Immerhin kann ich hoffen, durch militärische Erfolge und der damit verbundenen Beute, die Verschuldung wieder abzubauen (Tribute, Reparationen). Geht's schief, gehe ich fix unter. Haut's hin, habe ich ein dauerndes Grenzproblem (siehe Rom). 

Es kommt immer wieder zum selben Durchlauf.

 Schließlich sind die Leute das satt. Sie wollen Frieden, Minimalstaat und überlassen die Herrschaft dem System der Demokratie. Sie gehen ihren Geschäften nach, großer Wohlstand, aber sie übersehen, dass die Entscheidungsträger (zumeist Lehrer oder sonstwie gering Besoldete) ihrerseits dem System das Grab schaufeln.

 Zwei große Lager ("Parteien") wollen an die Macht, um ihren kläglichen Zustand, den sie nicht auf und über den Markt oder durch Leistungen verbessern können (Deutschlands erster Berufspolitiker war ein kleiner Buchvertreter namens Johannes Rau, war mal mit seiner früheren Freundin befreundet, Uta-Laura L.), jetzt dahingehend anheben, dass sie Kanzler, Minister usw. werden. 

Die Kapitalisten und Erfolgreichen, die Leistungsträger also, nehmen das nur am Rande zur Kenntnis ("wozu Kanzler werden, da würde ich mich doch verschlechtern!"). Sie übersehen leider völlig, wie die "politische Klasse" arbeitet. Sie kauft nämlich Stimmen, indem sie den Wähler mit seinem eigenen Geld besticht (Schulden, wie stattsam bekannt). 

Da die politische Klasse in wirtschaftlichen Dingen absolut inkompetent ist, werden immer neue Probleme geschaffen, wo Lösungen gefordert wären. Riesige Bürokratien, immer mehr unsinnige Gesetze und Vorschriften und immer höhere Verschuldung. Nach einigem Hin und Her (Inflation, Disinflation, Deflation, Hausse, Baisse usw.) der unvermeidliche Kollaps. 

"Experten" aus der Wirtschaft werden noch rasch eingeflogen (Hartz), um zu retten, was nicht zu retten ist. Heilslehrer treten auf, die am Schluss des Ganzen ansetzen ("Geld") statt am Anfang (Verschuldung). Das gesamte Gebilde kartelliert sich (UNO, Euro, "Schulterschluss" der Nationen) und hofft mit "supranationalen" Mätzchen (IMF usw.) das Unvermeidliche noch ein wenig hinaus zu schieben. 

Alles schön und gut, aber im Endeffekt sinnlos. Die Wirtschaft geht immer mehr in die Knie, die Wohlstandsmaschinerie stottert erst und wird schließlich völlig abgewürgt.

 Tja, was tun? Es gibt nichts, was getan werden könnte, solange Herrschaftssysteme und seien sie noch so herzig in bonbonfarbenes Demokratie-Papier verpackt, existieren. 

Der einzige Ausweg wäre die Beseitigung des Systems Herrschaft. Das wird jedoch verhindert, indem Horrorszenarien an die Wand gemalt werden, von wegen: Dann bringt jeder jeden um, usw. Die Menschen sind inzwischen auf die Gut-Staats-Idee fixiert und außerdem in ihren Einkommen (Renten, Arbeitslose, Arme, Kranke, Kinderreiche usw.) so sehr vom System Herrschaft abhängig, dass für sie eine grundlegende Alternative überhaupt nicht mehr in Frage kommt. [Zur Verdeutlichung: Freiheit die ich meine ]

Mit Herrschaft hat es angefangen. Mit Herrschaft hört es auf. Herrschaft, alias modern "Politik", ist ein komplett markt- und menschenwidriges System. Nun ist es da und nun müssen wir es bis zur Neige kosten.

 Das ist nun mal so wie es ist. Vielleicht wird es eines Tages eine andere Generation geben, die den gesamten Geschichtsablauf bis heute noch ein Mal aufarbeitet und dort mit der einzig möglichen Radikalkur ansetzt, wo anzusetzen wäre: Beim Entstehen von Macht, Zwang, Gewalt und Herrschaft und ergo deren ersatzlose Streichung.

Und noch zu diesen Passagen aus dem anderen Link:

 "A study by the economist M. Darling of the rural economy of the Punjab in modern times suggests a disturbing thing about human nature -- people work harder and produce more when they are in debt.

Ganz genau so ist es!

 "Darling found that crop yields for farmers in debt typically exceeded yields from unencumbered farmers." 

Jawohl.

 "Farmers in the Punjab may have faced foreclosure, but for the ancient inhabitant of Ur, the motivation was even greater. Debtors were often forced to sell themselves into slavery."

 Ganz genau.

 "It is difficult to escape the conclusion that, while the first loan contracts and the legal system that enforced them may have been good for the Mesopotamian economy, they made life miserable for the working man and woman. If lending began, as historian Paul Millet believes, as a process of neighborly reciprocity in rural societies, then it evolved into something quite different.

Das ist der Knackpunkt. Und jetzt kömmt's:

 "In Babylonian times, short-term debt was a tool used to extract taxes from the population, and to increase the productivity of temple lands" (= Staatsland, d.). 

"It is almost as though the government had found a way to extract the residual 'goodwill' from the economy, by allowing individuals to shift financial obligations into the future."

 Jawoll. 

"Lending in ancient Ur was mostly for emergency purposes -- where the government created the emergency!"

 Danke, das war's! Beweis erbracht. 

Und Gruß natürlich...