Bilanzkosmetik
  
Die Enron-Pleite und die kreative Buchführung im Zuge der allgemeinen Deregulierung 
  
Börsianer sind abergläubisch, und deshalb treibt sie seit dem Krach von 1929 die Furcht vor einem schwarzen Freitag um. Der 7. Juni war ein solcher zwar nur für den Dienstleistungs- und Elektronikkonzern Tyco, aber mit psychologischen Auswirkungen auf die Wallstreet insgesamt. Seine Aktie stürzte an diesem Tag um über 30 Prozent ab und verlor damit innerhalb einer Woche gut die Hälfte ihres Wertes. Der Grund waren Ermittlungen gegen den ehemaligen Konzernchef Dennis Kozlowski wegen Steuerhinterziehung bei den von Firmengeldern für ihn privat gekauften Immobilien und Kunstwerken. Letzteres war zwar legal, doch fraglich ist, ob diese Vorgänge bei Tyco korrekt bilanziert wurden. Und wenn heute das Wort »Bilanz« fällt, dann läuten bei den Börsianern alle Alarmglocken. Nicht zu Unrecht, denn der Zusammenbruch des texanischen Energiehändlers Enron im Dezember 2001 - die größte Firmenpleite in der US-Geschichte - hat die Börsenaufsicht zu dem Eingeständnis gebracht: »Es gibt in der Rechnungslegung keine einzig wahren Zahlen.« 

In den Verdacht der Zahlenkosmetik geriet damals neben dem Kabelbetreiber Global Crossing und dem Handelsriesen Kmart, die beide Konkurs anmelden mußten, auch Tyco. Der Aktienkurs ging seither beständig nach unten, und inzwischen sind rund 100 Milliarden Dollar Börsenwert vernichtet. Das ist mehr, als die Anleger durch die Enron-Pleite verloren haben. 

Fünftgrößter Konzern der Welt 

Der Fall Enron ist so bedeutend, weil der Konzern als Musterunternehmen des deregulierten und innovativen Kapitalismus galt. Erst in den achtziger Jahren als Händler von Energieformen aller Art gegründet, wurde Enron in weniger als zwei Jahrzehnten zum fünftgrößten Konzern der Welt. Im Kern stellten seine Aktivitäten eine neue, ausgeklügelte Form des Pyramidenspiels dar. Im US-amerikanischen Geschäftsleben ist das nicht unüblich und wird nach einem Bostoner Bankier, der 1920 einen riesigen Skandal verursacht hatte, »Ponzi-Finanzierung« genannt. Die funktioniert solange, bis das Unternehmen weder Kredite tilgen noch Zinsen zahlen kann. Daß dieser Zustand bei Enron quasi über Nacht eintrat, hängt mit der »kreativen«, aber legalen Buchführung zusammen. 

Im Zuge der allgemeinen Deregulierung sind viele Vorschriften des Bilanzwesens gelockert oder beseitigt worden, die als Hindernis für unternehmerische Effizienz und Innovation galten. Das hat dazu geführt, daß die unternehmerische Phantasie sich weniger mit der Entwicklung und Vermarktung von Produkten beschäftigt als mit der Gestaltung der Bilanzen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Partnerschaften, sogenannte SPE (Special Purpose Entities), an denen der Mutterkonzern mit weniger als 50 Prozent beteiligt ist. 

Bei Enron waren ausgewählte Mitarbeiter in rund 5000 solcher SPEs gleichzeitig Partner und Angestellte. Theoretisch gelten SPEs als »unternehmerische Gestaltungsvarianten«, um finanzielle Risiken zu separieren und besser streubar zu machen. Praktisch heißt das: Riskante Geschäfte und vor allem die Schulden werden ausgelagert, sie tauchen daher in der Bilanz des Mutterunternehmens nicht mehr auf. Der Vermögensstatus, der da aufscheint, ist also ein virtueller und kein realer. Dieser legale Trick ist die notwendige Voraussetzung, um die »Ponzi-Finanzierung« am Laufen zu halten, denn die so geschönte Bilanz gaukelt eine hohe Kreditwürdigkeit vor. Enron bekam auch über all die Jahre ein gutes Rating und konnte sich deshalb günstig finanzieren. Außerdem honorierte die Börse den schönen Schein mit steigenden Aktienkursen. 

Dafür war es natürlich wichtig, auch die Einnahmeseite kreativ zu gestalten. Die legale Möglichkeit, die Enron dabei nutzte, war, die prognostizierten zukünftigen Gewinne aus langfristigen Marktpreisänderungen im Energiesektor in die aktuellen Bilanzen zu schreiben. Im letzten Geschäftsjahr soll das mit einer Milliarde Euro zu Buche geschlagen haben. Der Wirtschaftswissenschaftler Egon Matzner schätzt, daß sich durch diese bei den US-Kapitalgesellschaften üblichen legalen Tricks, deren Börsenwert um zirka 15 Prozent aufgebläht ist, eine Wertberichtigung auf eine Billion Dollar belaufen müßte. 

Richtig kreativ wurde das Enron-Management im Zusammenspiel mit dem Wirtschaftsprüfungskonzern Arthur Andersen. Dieses, im Gefolge der Enron-Krise wegen krimineller Aktivitäten liquidierte Unternehmen gehörte zu den »Big Five«. So werden die wenigen Inhaber von Lizenzen der wichtigsten Finanzaufsichtsbehörde der Welt, der US Securities and Exchange Commission (SEC), genannt, die das Recht haben, die an der Wallstreet vertretenen Aktiengesellschaften zu prüfen. Andersen erfand in Kooperation mit dem Energiehändler den Tausch von Netz-Kapazitäten, einen beinahe perfekten Finanztrick. Dabei lieh Enron einem Partner freie Kapazität, was in seinen Büchern als Barerlös gebucht wurde und beim anderen als Investition. So wuchs das Vermögen beider - auf dem Papier. Die ebenso wie die Buchprüfer in den Medien über jeden Zweifel erhabenen Analysten und Sprecher von »Forschungs«abteilungen der Investmentbanken glaubten das und empfahlen die Enron-Aktie zum Kauf noch bis zwei Wochen vor dem Konkurs. Vielleicht trauten sie den Zahlen auch nicht, aber die Analystengehälter sind an den Umsatz des Investmentbanking gekoppelt. 

Das führte bei Merrill Lynch, einem der Großen dieser Branche, dazu, daß Aktien zum Kauf empfohlen wurden, die man in internen Papieren als Ramsch bezeichnete. Die New Yorker Justiz stellte ihre Ermittlungen inzwischen ein, weil das Bankhaus eine Buße von 100 Millionen Dollar bezahlte. Merrill Lynch tat dies »freiwillig«, weil die Bank damit ein Schuldbekenntnis vermeiden konnte, was sie hoffen läßt, Schadensersatzansprüchen von geprellten Kunden zu entgehen. 

Pro-forma-Ergebnisse 

Die Bilanzen der US-Aktiengesellschaften sind ein großer Bluff, der Methode hat. Schon im Jahr 2000 mußten rund 230 börsennotierte Unternehmen auf Druck der SEC ihre Bilanzen wegen offensichtlicher Verfehlungen neu erstellen. Für 2001 wird sich diese Zahl erhöhen. Aber selbst die korrigierten Bilanzen geben kein annähernd realistisches Bild vom Zustand eines Unternehmens. Das liegt an den, inzwischen auch in der Bundesrepublik verwendeten, US-amerikanischen Regeln der Rechnungslegung, den »Generally Accepted Accountig Principles« (GAAP). Im Kern handelt es sich dabei um eine Sammlung von Einzelnormen. Wenn es für ein konkretes Problem noch keine Regel gibt, dann sind der Kreativität des Bilanzbuchhalters keine Grenzen gesetzt. Die GAAP sind auch keine Rechtsnormen, sondern von einer privaten Institution seit 1973 verlautbarte Standards. In der Rechtsprechung werden die GAAP als nebulös in der Konzeption und unglaublich elastisch bezeichnet. 

Deshalb behalten sich die Gerichte in Prozessen vor, selbst eine »ordnungsgemäße Bilanzierung« zu erstellen. Das ist auch dringend notwendig, wenn man z. B. das seit einigen Jahren so beliebte Instrument der Aktienoptionen betrachtet. Diese neue Bezahlungsform für Manager war als Anreiz gedacht, ihre Leistung zu erhöhen. Sie sollten über Aktienoptionen Unternehmensbeteiligungen erwerben und so ein höheres Interesse am wirtschaftlichen Wohlergehen des eigenen Hauses haben. Eine Studie der US-Notenbank kommt jedoch zu dem Schluß, daß sich ein Zusammenhang zwischen Firmenbeteiligung und Leistungsbereitschaft nicht nachweisen läßt. Warum sich die Aktienoptionen dennoch so großer Beliebtheit erfreuen, hat einen anderen Grund: Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Gehaltszahlungen müssen sie in der Bilanz nicht als Ausgaben verbucht werden und schmälern daher nicht den Gewinn. 

Der britische Ökonom Andrew Smithers hat errechnet, daß die versteckten Kosten der Aktienoptionen bei den großen US-Konzernen im Jahr 2000 durchschnittlich rund 20 Prozent des Gewinns ausmachten. In der High-Tech-Industrie waren es sogar 72,8 Prozent, also nahezu drei Viertel der ausgewiesenen Gewinne. Und selbst das US-Finanzministerium meint, daß, wenn die Kosten der Aktienoptionen berücksichtigt worden wären, neun der 40 größten Konzerne Verluste geschrieben hätten. Irgendwann sind zwar die Möglichkeiten nach GAAP ausgeschöpft, doch für das »kreative Bilanzieren« ist damit noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Denn es besteht auch die Möglichkeit, sogenannte Pro-forma-Ergebnisse zu veröffentlichen. Dafür gibt es keine anerkannten Standards, und deshalb kann man sie nach eigenem Gutdünken gestalten. Nicht zufällig greifen IT-Unternehmen wie Amazon, Cisco oder Lucent gerne zu diesem Instrument. 

»Seit 1997«, so meint der US-Ökonom Paul Krugman, »haben viele Unternehmen mit zunehmender Aggressivität zu Bilanztricks gegriffen, um ein Gewinnwachstum vorzutäuschen.« Diese Feststellung wirft die Frage auf, ob es sich dabei um ein nur für die USA typisches Phänomen handelt. Dem ist natürlich nicht so. Cable & Wireless, einer der größten europäischen Betreiber von Telekommunikationsnetzen, hat vor kurzem zugegeben, mit »kontroversen Bilanzierungstechniken« die »angenommenen Gewinne« geschönt zu haben. Aber selbstverständlich ist das nach britischen Bilanzregeln zulässig. Wie überhaupt der »Goodwill«, d. h. Einnahmen, die tatsächlich - wenn überhaupt - erst in Zukunft anfallen, sofort in die Bilanz zu stellen, international rechtens ist. Wegen der als »starr« verschrieenen Bestimmungen des Handelsgesetzbuches (HGB) gilt die Bundesrepublik als Ausnahme im globalisierten Roßtäuschertum. Daran ist zumindest so viel richtig, daß beispielsweise die Telekom, die 2001 einen Verlust von 3,5 Milliarden Euro verzeichnen mußte, nach GAAP einen Gewinn von einer halben Milliarde Euro erwirtschaftet hätte. 

Ebitda-Arithmetik 

Doch auch hierzulande gibt es zahlreiche Möglichkeiten zur Bilanzkosmetik. Eine weitverbreitete ist das sogenannte Ebitda, d.h. das Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibung und Tilgung. Wie aussagelos diese Kennziffer ist, zeigt das Beispiel der Telekom-Konzerne: Vodafone und France Télécom hatten im Geschäftsjahr 2000 ein Ebitda von plus 11,2 bzw. 12,3 Milliarden Euro. In Wirklichkeit aber machten sie Verluste von 12,9 bzw. 8,3 Milliarden Euro. Die aktuellen Vorgänge um den Finanzdienstleister MLP zeigen, daß auch die »starren« Regeln des HGB genügend Möglichkeiten zur »kreativen Buchführung« bieten. So soll MLP seine Gewinne über Darlehen von Rückversicherern künstlich aufgebläht haben. »Einnahmen« durch Kredite wurden quasi als Gewinne verbucht. Dadurch ist ein in der Bilanz nicht hinreichend ausgewiesener Schuldenberg von 150 Millionen Euro entstanden. Zudem sollen die Provisionen an die Kundenberater nicht periodengerecht verbucht worden sein, was ebenfalls die Gewinne geschönt hat. 

2005 sind die »harten Zeiten« des HGB endgültig vorbei. Dann müssen in der EU alle börsennotierten Firmen ihre Rechenwerke nach den »International Accounting Standards« (IAS) erstellen. VW und BMW tun dies jetzt schon. Das Ergebnis ist, daß ihr ausgewiesenes Eigenkapital nun nahezu doppelt so hoch wie vorher und die Umsatzrendite um zehn Prozent gestiegen ist. An der wirtschaftlichen Realität der beiden Konzerne ändert die Buchführung nur insofern etwas, als die neuen schönen Zahlen die Kosten für die Kapitalbeschaffung verringern. 

Bilanztricks gehören zum Alltag des Kapitalismus. Überwog früher die Tendenz, die Konzernergebnisse schlechtzurechnen, um Steuern zu sparen und Lohnforderungen abzuwehren, so geht seit mehr als einem Jahrzehnt die Tendenz in Richtung beschönigen. Eine Erklärung dafür gibt Karlheinz Küting, Professor für Betriebswirtschaft: »Die Aktienmärkte honorieren nur stetige Gewinnsteigerungen. Daß das Management unter Ausnutzung sämtlicher Spielräume versucht ist, die geforderten Ergebnisse zu präsentieren, darf nicht überraschen.« Dahinter steckt jene Veränderung des Kapitalismus, die mit den Begriffen »Herrschaft der Finanzmärkte« und »Shareholder Value« beschrieben wird. 

Die zentrale Bedeutung der Finanzmärkte ergibt sich aus ihrer Rolle bei den Investitionen. In einer wachsenden Wirtschaft finanzieren die Unternehmen den Ausbau und die Modernisierung ihrer Anlagen nicht aus den laufenden Gewinnen, sondern durch Kredite oder die Ausgabe von Aktien und Anleihen. Ein Unternehmen, das hohe Gewinne bilanziert und reichlich Dividende ausschüttet, ist für Anleger attraktiv. Ein hoher Shareholder Value steigert also den Börsenwert und erleichtert die Möglichkeiten zur Geldbeschaffung an den Finanzmärkten. Sinkende Aktienkurse hingegen bedrohen die Selbständigkeit eines Konzerns, da sie »feindliche Übernahmen« erleichtern. 

Der Marktwert an der Börse entscheidet zudem über die Vergabe von zukünftigen Krediten. Und das erklärt die enge Verbindung von Shareholder Value und »New Economy«. In einem Wirtschaftssektor, dessen ökonomische Potenz nicht in der gegenwärtigen Produktion, sondern in seiner zukünftigen Bedeutung gesehen wird, ist die Beschaffung von Krediten das wichtigste Mittel im Konkurrenzkampf. So entsteht eine Spekulationsspirale, die grundsätzlich auch für die »Old Economy« gilt: Der Shareholder Value, der als Basis für neue Kredite fungiert, gründet sich auf die Bewertung eines Unternehmens, die sich nicht an der wirtschaftlichen Realität orientiert, sondern auf einer Spekulation auf die Gewinne von morgen basiert. Die müssen aber - z.B. durch den »Goodwill« - in die aktuelle Bilanz einfließen, um eine reichliche Dividende ausschütten zu können, d.h. einen attraktiven Sharholder Value zu erzielen. 

Umdefinition der Begriffe 

Die andere wesentliche Ursache für die geschönten Bilanzen liegt in der wirtschaftlichen Bedeutung, die Pensions- und Investmentfonds erlangt haben. Das ungeschriebene Gesetz dieser Gesellschaft lautet, Kapital muß verwertet werden. Die im goldenen Zeitalter des 20. Jahrhunderts angesammelten Ersparnisse der Arbeiter und Angestellten waren brachliegendes Kapital. Um das zu mobilisieren, wurde 1981 in den USA durch ein Gesetz eine grundsätzliche Systemänderung bei den Pensionsplänen vorgenommen. Die Arbeitnehmer wurden quasi gezwungen, ihr Geld in Aktien oder Staatsanleihen anzulegen. Während 1982 gerade eine von zehn Familien Fondsanteile besaß, hatten 1998 schon 119,8 Millionen US-Bürger ein Investmentdepot - das entspricht zwei Depots pro Familie. 

Mit dieser zunehmenden Bedeutung der Wertpapiermärkte hat auch eine wichtige ideologische Veränderung stattgefunden. Sparen, also das, was die abhängig Beschäftigten immer getan haben, wurde zur Investition. Diese Umdefinition des Begriffs führt zu einem weiteren Verwischen der Klassenstruktur: Jetzt sind alle Investoren, und die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Gruppen von Anlegern - Privatpersonen, Unternehmen, Arme, Reiche - hat sich in nichts aufgelöst. 

Weil auch das Kapital ein Interesse an einem realistischen Bild der ökonomischen Situation hat, wird in den USA diskutiert, ob nicht die IAS-Regeln für die Bilanzierung eingeführt werden sollten. Obwohl auch diese einen virtuellen Wert und nicht das reale Nettovermögen angeben, müßten viele Unternehmenswerte so abgewertet werden, daß weitere Konkurse unausweichlich sind. Dadurch würde der ohnehin zögerliche Konjunkturaufschwung gefährdet. Außerdem senkt eine Wertberichtigung die Kreditwürdigkeit, und die Konzerne müßten höhere Zinsen für Anleihen zahlen, was die Politik des billigen Geldes konterkariert, mit der die US-Notenbank seit über einem Jahr versucht, die Wirtschaft anzukurbeln. Geht aber andererseits die Roßtäuscherei weiter, nimmt der Vertrauensverlust der Anleger zu, was die Börsenkurse weiter nach unten treibt und negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft hat. Auf ökonomischer Ebene scheint also kein Ausweg aus diesem Dilemma möglich, wohl aber auf politischer. Mitte Februar, auf dem Höhepunkt der Enron-Krise, meinte ein Anlageberater des Schweizer Bankhauses Julius Bär: »Wenn der Irak angegriffen wird, redet keiner mehr von Buchhaltung.«

Karl Unger; 21.06.2002 

http://www.jungewelt.de/2002/06-21/008.php