Auszüge aus

"Die D-Mark"

von Wolfram Bickerich

[...] Erhards Konzept der Marktwirtschaft - das Attribut sozial wurde erst später von Erhards wichtigstem Mitarbeiter Alfred Müller-Armack hinzugefügt - basierte auf einer heutzutage ganz einfach klingenden Überlegung: Marktwirtschaft ist, weil sie auf der Leistung einzelner beruht, besser als eine Steuerung durch den Staat. Wettbewerb ist eine Bedingung der Marktwirtschaft, kommt aber nicht von allein, sondern muß vom Staat gesichert werden. Wirtschaftliches Wachstum ist die beste Sozialpolitik, denn es führt zu Vollbeschäftigung und ermöglicht zugleich gute Sozialleistungen für Benachteiligte. Der Staat - dies der soziale Aspekt - ist zum Schutz der wirtschaftlich Schwachen verpflichtet; eine derartige Umverteilung zugunsten der Benachteiligten darf aber nicht das Wachstum gefährden. Später brachten Erhard und seine Epigonen ihr Konzept auf ein zugkräftiges Schlagwort: Soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig. [...]

[...] Von nun an ging‘s bergan. Die goldenen Jahre der Mark konnten beginnen, und mit ihnen das Wirtschaftswunder. Dabei sind alle, die damals das Wunder erlebten, mit den Experten einig: Ein Wunder war es nicht.
Es war eine Mischung aus glücklichen Umständen und Fleiß. Aufbäumen und Sehnsucht nach Konsum, Konsenswillen der Tarifpartner und Verzichtbereitschaft der Bürger. Natürlich hätten übertriebene Lohnforderungen der Gewerkschaft den Erfolg gefährden können; es gab keinen Aufschrei benachteiligter Gruppen, kein Verlangen nach Privilegien. So erbittert die Redeschlachten im Bundestag um den rechten Weg zum Wohlstand tobten, so sehr wollten alle an ebendiesem Wohlstand für alle -- dies der berühmteste Wahlslogan Ludwig Erhards -- teilhaben. [...]

[...] Die Vollbeschäftigung bedeutete eine Trendwende in der Tarifpolitik. Bis zu diesem Datum hatten die Gewerkschaften, ähnlich erstaunt wie die einzelnen Bürger, den atemberaubend positiven Anstieg aller Konjunkturdaten verfolgt, hatten den Unternehmen mit maßvollen Lohnabschlüssen also einen gewissen Vorlauf eingeräumt. Nun wollten sie nachholen und etwas für ihre Mitglieder erreichen, die ja immer noch in einer Sechstagewoche 48 Stunden arbeiteten. 1956 wurden die ersten Arbeitszeitverkürzungen (auf 45 Stunden) vereinbart, und die Löhne stiegen überproportional um 9 Prozent -- Kennzeichen für einen angespannten Arbeitsmarkt, auf dem angesichts der guten Auftragslage die Beschäftigten mehr durchsetzen konnten. [...]

    --- Fremdlinkeinschub ---
    Kabinettssitzung [der Bundesregierung] am Mittwoch, den 4. November 1953

    Der Bundeskanzler stimmt dem Bundesminister für Wohnungsbau zu, daß es ungesund ist, 40% des Volkseinkommens über die öffentlichen Kassen laufen zu lassen; vor allem, wenn mit diesen Geldern etwa Autofabriken finanziert würden. Es komme darauf an, die Grenze zu finden, wie weit spekulative Erwartungen über die wirtschaftliche Entwicklung im Haushalt berücksichtigt werden könnten. Er bittet, Vorschläge zu machen, auf welchem Wege der hohe Prozentsatz der Steuern am Volkseinkommen gesenkt werden kann. (>>)

    Schon interessant! Damals stritten sie sich über eine Staatsquote von 40% am Volkseinkommen (entspricht ca. 30% vom BIP, siehe Graphik) und bezeichneten das schon 1953 als ungesund. Und trotzdem ging alles seinen Weg. Aber wen wundert's? Ich zitiere weiter Bickerich:
    --- Fremdlinkeinschub ende --- 

[...] Politisches Kalkül gewann die Oberhand. Das westdeutsche Rentenniveau lag schon 1956 durchaus höher als in den meisten anderen Industrieländern; mehrfach hatte der Bundestag bis dahin Rentenerhöhungen beschlossen. Dennoch war der Einkommenszuwachs der Rentner geringer geblieben als jener der Beschäftigten, und die Rentner hatten keine Garantie, daß sich diese Schere nicht noch weiter öffnen würde. So klang die Idee sozialpolitisch überzeugend. Rentenerhöhungen automatisch an das Wachsturn der (Brutto-)Lohn- und Gehaltssumme bei den Arbeitnehmern zu koppeln. Kanzler Adenauer war, als geborener Taktiker, im Wahljahr für die neuartige Dynamisierung der Renten. Sein Wirtschaftsminister Erhard kämpfte vehement dagegen an. Erhard sah nämlich voraus, daß der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung immer weiter steigen würde; deshalb fürchtete er, daß die dynamisierten Renten auf Dauer nur durch hohe Staatszuschüsse an die Rentenversicherungen bezahlt werden könnten. Das ganze Modell, so seine prophetische Sorge, könne überhaupt nur in einer Wirtschaft des steten Wachstums funktionieren. Natürlich hatte Erhard recht, wie wir heute wissen; aber ebenso natürlich wurden seine Bedenken im Wahljahr nicht gehört. Das Gesetz wurde im Parlament einvernehmlich verabschiedet und rückwirkend zum Jahresanfang 1957 in Kraft gesetzt. Zum Mai desselben Jahres wurden die Renten um 65 bis 70 Prozent erhöht, im Oktober gewann Adenauer die Wahl und hatte fortan für vier Jahre die absolute Mehrheit im Bundestag. [...]

    --- Fremdlinkeinschub ---
    Nach den "Teegesprächen 1950–1954“ bemerkte Adenauer am 20. Oktober 1953 zu diesem „sehr ernsten Thema“ auf die entsprechende Frage eines Journalisten: 

    »Die Bevölkerungsbilanz des deutschen Volkes ist erschreckend, die Überalterung, und es kommt, wenn nichts Durchgreifendes geschieht, dazu, daß einfach die Arbeitenden die Nichtarbeitenden nicht mehr unterhalten können. Das Verhältnis wird sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte völlig umkehren.«.....  (>>)
    --- Fremdlinkeinschub Ende ---  

[...] Das verspricht Adenauer nun für die Mitte der beginnenden Legislaturperiode: doch dann werden die beiden wieder von Wirtschaftsthemen eingeholt: Die Gewerkschaften stellen zum Teil exorbitante Lohnforderungen - 17 Prozent etwa in der nordrhein-westfälischen Chemie-Industrie, 10 Prozent die IG Metall für die Stahlarbeiter. Erhard empfindet solche Forderungen als «Hybris»: Zu einem Produktionsfortschritt von 5,5 Prozent ständen zweistellige Lohnforderungen in «krassem Mißverhältnis». Und prophetisch warnt er, der Sozialstaat sei :mit seinen Leistungen aufgebaut auf dem «Zustand der absoluten Vollbeschäftigung»:

«lch möchte mal sehen, was passieren würde, wenn auch nur ein Konjunkturrückschlag von zehn Prozent eintreten würde».

Und während Adenauer stichelt, solche Forderungen und die allgemein veränderte Lage der Konjunktur hätten wohl doch etwas mit der Aufwertung vom Frühjahr 1961 zu tun, verkündet Erhard am 21. März 1962, nun auch im Fernsehen, seinen ersten berühmt-berüchtigten Maßhalte-Appell:

«lch wende mich an das deutsche Volk in einer ernsten Stunde, in der es gilt, durch ein verantwortungsbewußtes Verhalten sich schon abzeichnende gefährliche Entwicklungen rechtzeitig zu unterbinden, um Unheil von unserem Land abzuwehren...Noch ist es Zeit, aber es ist auch höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen, als ob es einem Volke möglich sein könnte, für alle öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des einzelnen und der Nation mehr zu verbrauchen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann oder zu erzeugen gewillt ist.»

Er tadelt den «Wahnwitz» der Gewerkschaften, «die vermeintliche Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung durch eine Politik der Überforderung der Volkswirtschaft heilen zu wollen», und kritisiert ebenso die Unternehmer, die «zwar exportpolitische Schäden voraussagten, aber dennoch bereit waren, auch wider bessere Einsicht, der Verteuerung der Produktion und der daraus resultierenden Preiserhöhung Raum zu geben». Alle in der Wirtschaft Beteiligten dürften «nicht noch einmal» den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Stabilität aus den Augen zu verlieren.

.....Im Inneren setzen Erhard [jetzt selbst Bundeskanzler] und seine Koalition aus Union und FDP die 1957 von Adenauer begonnene «Politik der Wahlgeschenke» fort. Die Konjunktur läuft ordentlich, Löhne Gehälter allerdings steigen überproportional mit jeweils 9 Prozent in den Jahren 1964 und 1965 - da beschließt die Koalition zu allem Überfluß, aber rechtzeitig vor dem Wahltag eine Senkung der Einkommensteuer, mit der man normalerweise eine lahmende Wirtschaftstätigkeit zu beschleunigen sucht.

Zugleich verfallen die öffentlichen Haushalte in einen wahren Ausgabenrausch: Sie nehmen in beiden Jahren neue Schulden in Höhe von 14,3 Milliarden Mark auf. Bundesbankpräsident Blessing mahnt schon Ende 1964: «Es scheint mir an der Zeit zu sein, daß diejenigen, die mit dem Blick auf die Wahlurne den diversen Forderungen nachgebend immer neue Ausgaben beschließen, sich Rechenschaft über ihr Tun ablegen, damit die beschlossenen Ausgaben nicht eines Tages mangels Masse unerfüllbar sind oder nur im Wege der Geldschöpfung erfüllbar wären.»

Das ist eigentlich eine überflüssige Warnung an einen Maßhalte-Kanzler, doch in diesem Fall gerechtfertigt: In den letzten Monaten vor der Wahl beschließt der Bundestag 56 Gesetze die staatliche Ausgaben zur Folge haben; mehr als fünf Milliarden Mark werden für Kindergeld und Kriegsopfer, Ausbildungsförderung und Schwangerschaftsgeld, 312-Mark-Gesetz und höhere Renten eingeplant. Die Bundesbank hat längst die Zinsen heraufgesetzt, doch in Bonn tun die Haushaltspolitiker als seien die Wahlgeschenke solide finanziert und unvermeidbar. Erhard ist kaum wiedergewählt, da muß eine große «Sparkommission» etliche der Versprechen wieder einsammeln. Ein Haushaltssicherungsgesetz, das in 17 gültige Gesetze eingreift fördert Einsparungsmöglichkeiten von etwas über drei Milliarden Mark zutage - angesichts heutiger Etatprobleme rührende Größenordnungen. [...]

Grundgesetz, Das Finanzwesen, Artikel 115:
So lautete die ursprüngliche Fassung des Artikels zur Währungsreform 1948:

«lm Wege des Kredits dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken und nur auf Grund eines Bundesgesetzes beschafft werden. Kreditgewährungen und Sicherheitsleistungen zu Lasten des Bundes, deren Wirkung über ein Rechnungsjahr hinausgeht, dürfen nur auf Grund eines Bundesgesetzes erfolgen. In dem Gesetz muß die Höhe des Kredits und der Umfang der Verpflichtung, für die der Bund die Haftung übernimmt, bestimmt sein.»

Damit, so der Finanzwissenschaftler Roland Sturm, «stand der Ausgleich des Haushalts, das Nicht-Mehr-Ausgeben-Als-Man-Hat, im Vordergrund. Solide Haushaltsführung wurde an den Überschüssen gemessen, die der Staat erwirtschaften konnte. Staatsverschuldung galt eher als Eingeständnis für Politikversagen, »

Und das wurde daraus, lediglich 17 Jahre später. 1965 wurde er, in die noch heute gültige Version, geändert:

«Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz. Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.»

Damit waren die Hürden gefallen, auch wenn das Grundgesetz die Neuverschuldung mit der Höhe der Investitionsausgaben eine Grenze setzte, die nur ausnahmsweise überschritten werden darf.

Schon faszinierend, ganze 17 Jahre hat der "Damm" gehalten. 17 Jahre, nachdem quasi von Null angefangen wurde.