Freiheit für die einen ist Sklaverei für die anderen 

Arundhati Roy über den amerikanischen Angriff
 

Im Gespräch: Die indische Schriftstellerin Suzanna Arundhati Roy über den amerikanischen Angriff auf Afghanistan, die "Zwillinge" George W. Bush und Osama bin Laden und die Folgen der Globalisierung
Moritz Schwarz / Silke Lührmann 
 
 

Frau Roy, in einem aufsehenerregenden Beitrag in der FAZ vom 28. September haben Sie gewarnt, wir würden nun erleben, "wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig nach einem alten Instinkt greift", um Krieg zu führen, und deshalb würden wir "auch diesmal aus dem Blick verlieren, warum er überhaupt geführt wird". - Seit Sonntag bombardieren nun die USA Afghanistan. Haben sich Ihre Befürchtungen bewahrheitet?

Roy: Natürlich. Meine schlimmsten Befürchtungen sind damit bestätigt. Amerika und seine Alliierten haben überstürzt den schlimmsten, unklügsten, unbedachtesten aller möglichen Wege eingeschlagen.

Wie hätte Amerika denn reagieren sollen?

Roy: Was am 11. September in New York geschehen ist, ist nicht zu rechtfertigen. Aber das bedeutet nicht, daß man nicht versuchen muß, zu verstehen, warum es passiert ist, und wenn es nur dazu dient, eine Wiederholung zu vermeiden. Zu versuchen, etwas zu verstehen, ist nicht dasselbe, wie es zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Auf unheimliche und schreckliche Art und Weise gibt der 11. September Amerika die Chance zu beweisen, daß es wirklich eine Supermacht ist. Damit meine ich, es hätte Weisheit beweisen und zeigen können, daß es ein großer Staat ist, zur Entschiedenheit fähig, aber auch zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme. Es war nicht nur Amerika, das in der Vergangenheit furchtbare Fehler gemacht hat. Aber gerade weil es so ein mächtiges Land ist, sind seine Fehler entsprechend schwerwiegend - und hatten und werden um so schrecklichere Konsequenzen haben. Doch im Moment schlägt Amerika in seiner Wut wild um sich. 

Der neue Krieg wird als ein globaler Krieg bezeichnet.

Roy: Wir haben es mit einer "internationalen Allianz gegen den Terror" zu tun, weil Amerika dazu neigt, seine eigene Identität mit der der ganzen Welt zu verwechseln. Amerika nimmt wie selbstverständlich an, es sei die Welt. Dabei ist das auf keinen Fall ein "globaler" Krieg, genausowenig wie die "internationale Allianz" international ist. Dutzende von Ländern, Millionen von Menschen in aller Welt wollen weder etwas mit George Bush noch mit den Taliban zu tun haben, denn beide sind auf ihre Art und Weise monströs. Die "internationale Allianz" ist einfach die Gruppe der reichsten Länder der Welt, unter ihnen die Hersteller beinahe sämtlicher Waffen in der Welt, die in ihrer jüngeren Geschichte auf der ganzen Welt furchtbaren Terror über die Menschen gebracht haben. Die "Beweise", die belegen, daß Osama bin Laden der Urheber der Attacken von New York ist, werden vor den meisten Ländern der Erde geheimgehalten, obwohl sie um militärische und moralische Unterstützung gebeten wurden. Das vernünftigste, was die Taliban je getan haben, ist wohl, die Offenlegung der Beweise gegen bin Laden zu verlangen. Diese Höflichkeit wurde ihnen bislang aber nicht gewährt. George Bush beharrt darauf, daß die Auslieferung bin Ladens "nicht verhandelbar" sei.

Wie würden die USA darauf reagieren, wenn die Auslieferung eines ihrer Bürger verlangt würde?

Roy: Ja, stellen Sie sich einmal die umgekehrte Situation vor! Und das, ohne daß irgendwelche Beweise vorliegen! Der Krieg hat seine eigene Logik und Begründung, und wir werden auch diesmal aus dem Blickfeld verlieren, warum er überhaupt geführt wird. Jede Seite wird den Einsatz erhöhen - selbst wenn bin Laden die Attacken nicht geplant haben sollte, wird er nun alles versuchen, um seinen Vorteil aus der Situation zu ziehen: Warum sollte er die Möglichkeit nicht nutzen, der Mann zu werden, der die Welt verändert hat? Währenddessen verhindern Amerikas mainstream-Medien - die berühmte amerikanische "freie Presse" - jede sachkundige Debatte zum Thema. Jeder, der eine abweichende Meinung hat, wird einfach an den Rand gedrängt. Die amerikanische Presse hat sich mehr oder weniger wie ein Propaganda-Organ der US-Regierung verhalten. In der Vergangenheit haben die Amerikaner bewiesen, daß sie sehr wohl zu eigenem Denken, zu Demut und auch dazu fähig sind, couragiert ihrer Regierung zu widersprechen. Aber die "verhängte" Informations- und Debattiersperre macht aus den meisten Amerikanern Versuchskaninchen in einem beobachteten Laborversuch, denn Menschen sind letztlich ein "Produkt" der Informationen, die sie erhalten. Angesichts der Informationen, die sie tatsächlich haben, kann man ihnen kaum einen Vorwurf daraus machen, daß sie zu 90 Prozent für Krieg votieren. Amerika ist schon ein seltsamer Ort: Dort leben wunderliche Menschen wie auf einer einsamen Insel, regiert von einer krankhaft unmoralischen Regierung, die sich in die Angelegenheiten aller anderen einmischt. 

Sie werfen dem Westen vor, mit Propaganda zu reagieren, statt die Situation zu analysieren?

Roy: Die wirkliche Lehre des 11. September hätte sein müssen, daß die Welt in eine neue Phase eingetreten ist. Selbst unser Verständnis der menschlichen Natur muß nun ein anderes werden. Denn alles, was wir sind, und alles, was wir bislang erreicht haben - unsere Kunst, Musik, Logik, Technologie - beruht auf der Tatsache, daß der Mensch den biologischen und instinktiven Wunsch zu leben hat. Er will überleben, er will, daß man sich seiner erinnert. Wenn das nicht mehr gilt und das Leben so wertlos wird, daß der Tod wertvoller erscheint, dann leben wir wirklich an einem anderen Ort. Um das zu verstehen, muß man allerdings einmal innehalten, sich dem Lärm und dem Treiben entziehen und nachdenken! Man muß versuchen, zu verstehen, was so furchtbar falsch gelaufen ist. Wie können die gemachten Fehler korrigiert werden? Was ist zu tun? Gerade jetzt brauchen wir unbedingt Weisheit. Keine Waffen, keine Cowboys.

Sie sprechen davon, daß die USA andere Länder nicht nur "auffordern", sondern sie sogar "zwingen", sich im Rahmen der "internationalen Allianz gegen den Terror" an ihrer "nachgerade göttlichen Mission ’Infinite Justice‘" (Grenzenlose Gerechtigkeit) zu beteiligen.

Roy: Bevor Amerika sich selbst an der Spitze dieser "internationalen Allianz" platziert, werden wohl einige Fragen erlaubt sein müssen: Dieser neuartige Feldzug nannte sich zunächst "Grenzenlose Gerechtigkeit", inzwischen heißt er "Dauerhafte Freiheit". Doch viele Menschen in der Dritten Welt wollen wissen: Grenzenlose Gerechtigkeit für wen? Dauernde Freiheit für wen? Denn nach unserer Erfahrung bedeutet grenzenlose Gerechtigkeit für die einen grenzenlose Ungerechtigkeit für die anderen. Dauerhafte Freiheit für die einen, dauerhafte Sklaverei für die anderen. Die Geschichte des Krieges sollte uns lehren, daß man Menschen auslöschen kann, aber nicht ihre Gefühle, ihre kollektive Erinnerung, ihren Stolz und die Erniedrigungen, die sie erfahren haben. Die Freiheit der Rede, die Freiheit, eine abweichende Meinung zu haben, die Freiheit der Religion - das ist die eine Seite Amerikas. Aber die Freiheit, andere zu erniedrigen, die Freiheit zu versklaven, die Freiheit, andere in den Dreck zu stoßen - das ist die andere Seite. Die Freiheit, dein Geld und deine Macht zu nutzen, um sich in fremde komplexe Gesellschaften einzumischen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Sicherlich gibt es keine perfekte Gesellschaft. Aber nehmen Sie einmal an, Amerika wäre nicht so reich und mächtig und Deutschland und Indien würden beschließen, die amerikanischen rechtsgerichteten Milizen zu bewaffnen, weil wir mit der US-Regierung unzufrieden wären. Oder stellen Sie sich vor, wir würden die unter dem Rassismus leidenden Schwarzen in den USA bewaffnen. Man kann keine egalitäre Gesellschaft schaffen, indem man einen Knopf drückt oder einfach Geld und Waffen verteilt. Eine Gesellschaft muß die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln, eine Demokratie muß sich entwickeln können, die Unterdrückten müssen lernen, für ihre eigenen Rechte zu kämpfen. Niemand kann von außen kommen und in diesen Prozeß eingreifen, indem er die Menschen wie Schachbrettfiguren hin- und herschiebt. Genau das tut Amerika seit Jahren überall auf der Welt.

Deshalb bestehen Sie darauf, daß der Terrorismus ein Symptom sei und nicht die Krankheit.

Roy: Als Indien 1998 Atombombentests durchführte, warnte ich bereits davor, daß das Prinzip der Abschreckung ein großer Fehler ist. Denn die Idee der Abschreckung beruht auf der Annahme, daß man ein sensibles Verständnis seines Gegners hat und annehmen kann, daß er sich von denselben Dingen abschrecken läßt wie man selbst auch. Was aber, wenn dem nicht so ist, was, wenn es sich beim Gegner um den Typus des Selbstmordattentäters handelt? Terrorismus ist die kaltblütige, unausweichliche, logische Antwort auf die nukleare Option. Denn Regierungen, die Atomwaffen haben, sind auf bestimmte Art und Weise selbst terroristisch. Sie gehen ihren Geschäften nach und verfolgen ihre Interessen, indem sie der Welt von Zeit zu Zeit manchmal offen, manchmal verdeckt mit dem Terror drohen, den sie entfesseln können. Mit staatlichem Terrorismus kann man dem nichtstaatlichen Terrorismus nicht beikommen - einfach deswegen nicht, weil darin eine unkontrollierte Wut zum Ausdruck kommt, die der Staatsterrorismus ausgelöst hat. Diese Wut kann man nicht zerschießen oder zerbomben. Man kann nur versuchen, ihr mit Überzeugungskraft entgegenzutreten. Das mag ein schwieriger und demütigender Weg sein, aber es ist der einzig gangbare. Wenn wir uns weigern, ihn zu gehen, müssen wir uns darauf einrichten, daß der Terror kein Ende findet. Und wenn Regierungen gegen Terrorismus sind, müssen sie sich auch bereit zeigen, auf gewaltfreie, demokratische Formen des Protests einzugehen. Sie müssen auf Alarmsignale reagieren. Indem man dem Terror so viel Aufmerksamkeit schenkt - indem man einen terroristischen Angriff mit einer Kriegserklärung beantwortet, die zu einem Weltkrieg führen könnte -, gibt man den Terroristen recht. Sie können Gift drauf nehmen, daß jetzt Terroristen überall Morgenluft wittern, nachdem sie gemerkt haben, daß ein einziger hervorragend geplanter Anschlag genügt, um ihre Anliegen auf die Fernsehschirme der ganzen Welt zu bringen. Dafür lohnt es sich zu sterben! Die klügste Antwort auf das Grauen des 11. September wäre der Versuch, sich die Schönheit neu vorzustellen - denn das ist es, was die Welt verloren hat. Die Häßlichkeit des Osama bin Laden und die Häßlichkeit des George W. Bush haben uns überwältigt. 

Sind die Amerikaner demnach Heuchler oder lediglich verhängnisvoll naiv?

Roy: Diese Frage stelle ich mir ständig - unter der ganzen Cowboy-Rhetorik der amerikanischen Regierung schwelt ein tiefer, manipulativer Zynismus. Aber die einfachen Menschen sind, wie gesagt, schlecht informiert. Sie würde ich schon naiv nennen. Ich habe den Eindruck, daß die Menschen in einem armen Land wie Indien besser über Situationen, wie wir sie jetzt erleben, informiert sind als der durchschnittliche Amerikaner. In den indischen Zeitungen finden alle Meinungen Raum. Zur Zeit der Atomtests herrschte in Indien genau dieselbe überzogen nationalistische Atmosphäre wie jetzt in den USA, und trotzdem hatten einige der wichtigsten Zeitungen den Mut, sich gegen die Regierung zu stellen. In Indien verstehen wir nicht, wie das amerikanische Volk immer wieder auf seine Regierung hereinfallen kann. Die Amerikaner sind so reich, so privilegiert und gleichzeitig so sehr gegen die Gewalt abgeschirmt, daß sie in ihren Filmen mit ihr spielen können, weil sie sie selbst noch nicht wirklich erlebt haben. Sie haben Gewalt nur von außen kennengelernt, als sie ihre Männer nach Vietnam schickten und sie in Leichensäcken zurückbekamen. Aber in ihren Heimen und in ihren Herzen haben sie sie nie erfahren müssen. Wir dagegen haben seit Jahren mit ihr leben müssen.

Der springende Punkt scheint zu sein, daß die USA ihr weltweites militärisches Engagement, lediglich als eine Art erweiterter Selbstverteidigung betrachten.

Roy: Wie rechtfertigt Amerika all die Untaten, die es im Namen der Selbstverteidigung begangen hat? War Vietnam Selbstverteidigung?

Die USA sehen sich als Gralshüter von Demokratie und Freiheit legitimiert, bei Bedarf überall zu intervenieren.

Roy: Das ist doch kompletter Unsinn! Die USA haben so viele Diktatoren unterstützt, daß man sie kaum noch zählen kann. Sogar Saddam Hussein haben sie Waffen geliefert, als er die Kurden tötete. Es gibt diesen berühmten Ausspruch: "Sicher ist er ein Hurensohn. Aber er ist unser Hurensohn." Nur wenn die von den USA gestützten Despoten anfangen, eigene Wege zu gehen, dann nennen sie sie "Faschisten" oder "Diktatoren". Auch frage ich mich, wie die USA den Tod von 500.000 Kindern durch die Sanktionen im Irak rechtfertigen können. Dann heißt es, die Menschen sind verantwortlich für ihre Regierung. Allerdings: Sind dann die Menschen in einer Demokratie nicht erst recht verantwortlich für ihre Regierung?

Dann traf es am 11. September 6.000 politisch schuldige Menschen?

Roy: Natürlich waren sie nicht schuldig - aber ebensowenig waren es die Menschen, die in Amerikas Kriegen und Gegenschlägen starben, noch sind es die Zivilisten im Irak. Die Frage ist: "Was ist Terrorismus?" - Kann irgendwer diese Frage beantworten? Man sagt, Terrorismus sei die Tötung Unschuldiger. Gibt es das nicht genauso im Krieg?

Auch wenn immer wieder viele Zivilisten umkommen, so haben Soldaten eigentlich den Auftrag, nur andere Soldaten anzugreifen. Das ist schon ein Unterschied.

Roy: Aber das ist nicht die Realität.

Aber das ist das Kriegsvölkerrecht.

Roy: Nicht in Hiroshima und Nagasaki, nicht im Irak und nicht in Ost-Timor ...

Noch in Dresden, das stimmt.

Roy: Es ist sehr wichtig, zu verstehen, was Terrorismus ist. Die US-Regierung will eine "Allianz gegen den Terror". Als die USA in den achtziger Jahren die Mudschaheddin finanzierten und bewaffneten, nannten sie das kommunistische Regime in Kabul Terroristen. Der US-Verbündete Pakistan hatte und hat heute noch im ganzen Land Terror-Camps und schickt Terroristen nach Kaschmir. Indien nennt diese Leute Terroristen, Pakistan nennt sie Freiheitskämpfer. Indien verurteilt den Terror, trainiert aber selbst die LTTE, die gegenwärtig Sri Lanka terrorisiert. Es ist sehr gefährlich für Regierungen, mit diesen gewaltigen, explosiven menschlichen Emotionen zu spielen. Viele Staaten sind oder waren in das Geschäft des Terrorismus verwickelt. Es ist nötig, sich endlich einzugestehen: "Jeder von uns hat so etwas einmal gemacht, laßt uns von nun an in die Zukunft schauen, wenigstens mit einem Minimum an Übereinstimmung und Ehrlichkeit." Wenn nicht, dann sollten wir wenigstens die Frömmigkeit und Moralität fallen lassen und so ehrlich sein, einzugestehen, was für eine brutale, groteske Spezies wir sind, und unsere brutalen, grotesken Kriege in Zukunft fortsetzen, ohne sie mit biblischen Bezeichnungen zu etikettieren. 

Gibt es also Terrorismus gar nicht, ist er lediglich eine Frage des Standpunktes?

Roy: Ich habe an den Protesten gegen ein großes Damm-Projekt der indischen Regierung teilgenommen. In den letzten 50 Jahren wurden deshalb 33 Millionen Menschen umgesiedelt - natürlich die Ärmsten der Armen. Seit 15 Jahren gibt es nun diese wundervolle gewaltlose Protestbewegung, voller Tanz, Gesang und - Schönheit. Aber niemand hört zu, niemand beachtet sie. Wenn diese umgesiedelten Menschen morgen zu den Waffen greifen, wird sie jedermann Terroristen nennen. Wenn die, die an der Macht sind, Gewaltfreiheit nicht zu schätzen wissen, dann fördern sie durch Unterlassung die Gewalt.

Der Westen rüstet also nicht nur die Terroristen von morgen heute auf, er zwingt die anderen Kulturen auch, nach dieser Lösung zu greifen, weil er auf friedliche Protest- und Abwehrformen nicht reagiert?

Roy: Ganz genau! Das ist der springende Punkt. Die Vergötterung, die absolute Ehrfurcht, die der Kult der Gewalt überall auf der Welt genießt - das ist der springende Punkt!

Sie haben den Terrorismus als ein Produkt sozialer und politischer Ungerechtigkeit beschrieben. Aber ist er nicht genauso eine Folge der kulturellen Differenz? Osama bin Laden führt keine sozialen, sondern kulturelle Gründe bei seiner Argumentation gegen Amerika und den Westen ins Feld.

Roy: Was bleibt einer Person oder einer Kultur, der alles genommen wurde? Wer sind die Taliban? Das sind Menschen, die Frauen steinigen oder sie lebendig begraben, weil sie gar nicht wissen, was Frauen sind. Sie haben keine Mütter gehabt, denn ihre Eltern wurden zumeist im Bürgerkrieg getötet, und sie sind ohne Familien aufgewachsen. Eineinhalb Millionen Afghanen wurden im Bürgerkrieg getötet! Die ältesten Taliban-Führer sind um die 40. Viele von ihnen sind kriegsversehrt, ihnen fehlt ein Auge, ein Arm oder ein Bein. Sie sind in einer Welt aus Schutt und Asche - und Heroin - aufgewachsen und leben bis heute dort. Alles in ihrer Welt ist zertrümmert und bloßgelegt, und das Monster in ihnen erwacht und wütet und wütet. Dabei spielt es keine Rolle, was dieses Monster ihnen einflüstert, ob es ihren Protest kulturell, ökonomisch, politisch oder religiös nennt. Es wütet einfach. Deshalb ist es wichtig, die Wut zu dämpfen, nicht sie anzufachen, denn diese Wut ist grenzenlos destruktiv.

Sie haben Osama bin Laden "die dunkle Seite der Zivilisation" und den "dunklen Doppelgänger George Bushs" genannt.

Roy: Ja, sie sind wie Zwillinge, sie repräsentieren die zwei Extreme der Zivilisation, und nur das eine Extrem ist wirklich in der Lage, das andere herauszufordern. Die übrige Welt liegt zwischen diesen Polen. Der eine ist aus den Exkrementen des anderen entstanden.

Welche Rolle spielt die Globalisierung in diesem Konflikt?

Roy: Ihre Rolle ist gewaltig. Nach dem Fall der Sowjetunion wurden die USA zur unipolaren Macht. Denn wenn Opposition fehlt, ist es gleichgültig, ob es sich um den Kapitalismus handelt oder um den Kommunismus oder den Islam; alles, was ungehemmt außer Rand und Band geraten kann, wird monströs. Das ist es also, was die Globalisierung anrichtet. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Die amerikanische Firma ENRON wollte in Indien ein Kraftwerk bauen. ENRON hatte die gesamte US-Administration im Rücken, einschließlich des Präsidenten. ENRON unterzeichnete einen merkwürdigen, einseitigen Vertrag, möglich durch die Zahlung enormer Geldsummen an Politiker. Heute ist die Elektrizität, die ENRON anbietet, so teuer, daß sie sich niemand leisten kann. Aber obwohl niemand den Strom kauft, ist die Regierung per Vertrag verpflichtet, ENRON einen Betrag zu bezahlen, der 60 Prozent des indischen Budgets für landwirtschaftliche Entwicklung entspricht. Die Menschen protestieren seit Jahren dagegen. Niemand nimmt Notiz davon. So nimmt man einer Gesellschaft schleichend ihre Würde, ihre Infrastruktur, ihre Produktivität, ihre Initiativfreudigkeit. Und was übrigbleibt, ist jene gefährliche Monstrosität.

Die Gefahr, die von der Globalisierung ausgeht, stellt also nicht die Vernichtung der verschiedenen Kulturen dar, sondern das unipolare System?

Roy: Das Verschwinden der Kulturen führt zum unipolaren System. 

Deutschlands bekanntester Nachrichtenmoderator Ulrich Wickert übte die gleiche Kritik wie Sie an Präsident Bush und zitierte einige Sätze aus Ihrem Essay. Trotz sofortiger Entschuldigung sah er sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt, bis hin zu Rücktrittsforderungen.

Roy: Wieso denn das? - Das ist allerdings traurig ...

Der Verweis auf Ihren Text nützte ihm nichts, schließlich hieß es, Frau Roy sei es erlaubt, so etwas zu sagen, einem deutschen Nachrichtenmoderator jedoch nicht.

Roy: Was ist denn nur los mit Deutschland? Warum darf ich so etwas sagen, nicht aber Herr Wickert? Glaubt Ihr Deutschen denn, in den Köpfen der Menschen wehen kleine Flaggen? Was ich gesagt habe, habe ich als Weltbürgerin gesagt, nicht als Inderin. Ich dachte, Deutschland sei ein freies Land?

Die deutsche Regierung teilt die amerikanische Interpretation des Konfliktes als "Angriff auf die Freiheit", sie verbittet sich jede Kritik an den Vereinigten Staaten und unterstützt die USA politisch und militärisch völlig bedenkenlos.

Roy: Da sehen Sie die Gefahr der "unipolaren Monstrosität"! Aber um ehrlich zu sein, wenn die indische Regierung die Gelegenheit hätte, würde sie es genauso machen. Und tatsächlich bemüht sie sich auch darum, doch zum Glück scheinen die USA keinen allzugroßen Wert auf ihre Hilfe zu legen. Es ist eben sehr einfach für Präsident Bush und seine Anhänger in Deutschland und überall in der Welt, zu erklären: "Dies war ein Angriff auf die Demokratie und die Freiheit". Aber das war es nicht - und jemand muß das laut sagen -, es war lediglich eine andere Welt, die versucht hat, klarzumachen: "Schaut her! Wir existieren! Wir haben Rechte! Gebt uns Raum zu atmen!" Hören wir auf sie, bevor es zu spät ist. 
 
 

Suzanna Arundhati Roy wurde 1959 in Shillong / Südindien geboren und lebt heute in Neu-Delhi. Sie studierte Architektur, arbeitete als Aerobictrainerin und versuchte sich als Drehbuchschreiberin. 1996 veröffentlichte sie ihren bislang einzigen Roman ("Der Gott der kleinen Dinge", Blessing, 1997), der den renommierten britischen Booker-Literaturpreis gewann, sie international bekannt und zum Liebling der indischen Kulturszene machte. Die Geschichte der Liebe zu einem Unberührbaren wurde allerdings von den indischen Behörden aus moralischen Gründen zensiert. Seit 1998 engagiert sich Roy gegen die indischen Atombombentests und gegen ein gewaltiges Dammbau-Projekt der indischen Regierung. Deswegen droht ihr nun eine sechsmonatige Haftstrafe. Früher als andere profilierte sie sich auch als scharfe Globalisierungsgegnerin. Die völlig unreflektierten Reaktionen der amerikanischen Politik und Medien auf die Terroranschläge von New York haben Roy veranlaßt, sich mit einem Essay zu Wort zu melden ("Wut ist der Schlüssel", FAZ vom 28. September 2001), in dem sie das Verhängnis, in das auch das bedingungslos bündnistreue Deutschland mit hineingezogen werden könnte, exakt beschreibt: "Sobald Amerika ausgezogen ist, Krieg zu führen, kann es nicht heimkehren, ohne ihn auch tatsächlich geführt zu haben. Sollte es aber keinen Feind finden können, wird es - um der unbesänftigten Wut der Bürger in der Heimat willen - gezwungen sein, einen Feind zu konstruieren."

FAZ vom 28. September 2001: In ihrem Aufsatz "Wut ist der Schlüssel" kritisierte Arundhati Roy scharf die amerikanische Außenpolitik und schrieb den USA eine Mitschuld an der Entstehung dessen zu, was sie nun als "Terrorismus" bekämpfen. Eine Passage aus diesem Text zwang Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert beinahe zum Rücktritt, nachdem er sie in einer Kolumne für die Zeitschrift "Max" zustimmend zitiert hatte. 
 
 

http://www.jungefreiheit.de/roy-interview/roy-interview.htm