Der größte Konzern-Skandal Amerikas - oder: was passiert, wenn Konzerne sich ‘anständig benehmen’

von Paul Street
ZNet 23.07.2002

Paul Street ist Sozialwissenschaftler u. arbeitet als freier Autor in Chicago/USA. Sie können ihn kontaktieren unter pstreet@cul-chicago.org
 

Die Kolumne neulich des populären Chicagoer Wirtschaftsautors David Greising spricht Bände über die Limitationen, die sich unsere “Mainstream”-Presseleute - oder sagen wir besser Medien-Konzerne - derzeit auferlegen, wenn es um die Kommentierung des jüngsten Sündenregisters amerikanischer Konzerne geht. In seinem amüsanten Artikel vom 12. Juli in der ‘Chicago Tribune’ zeigt sich Greising erleichtert über den Verlauf einer Pressekonferenz, die am Vortag stattfand - eine Pressekonferenz des Boeing-Konzerns mit Hauptsitz in Chicago. Greising war nämlich gefaßt gewesen, einem weiteren dieser schockierenden Schuldeingeständnisse eines vom Wege abgeirrten Konzerns beiwohnen zu müssen - u. entsprechend erleichtert u. froh, als Boeing ganz im Gegenteil etwas “Positives” vermeldete. Und wie lautete die ‘frohe Botschaft’? In Greisings Worten: Boeing “weitet sein Verteidigungs- und Satellitengeschäft in eine $23-Milliarden-Sparte aus”, Chef der neuen Einheit: Jim Albaugh - nachdem Albaugh zuvor laut Greising “...Jerry Daniels ausgestochen hat, dessen Karriere bei Boeing ins Schlingern geraten ist, seit Boeing im letzten Jahr die Ausschreibung für einen $200 Milliarden-Auftrag an seinen Erzrivalen Lockheed Martin verloren hat - das ‘Joint Strike Fighter Program’”. In Zeiten höchster öffentlicher Aufgeregtheit angesichts des Fehlverhaltens von mehreren Konzernen, freut sich Greising, Boeings leitenden Geschäftsführer (CEO) Phil Condit über “die Muttern, Bolzen und Spionage-Satelliten seiner Branche” reden zu hören bzw. über die Schritte, die “nötig sind, um den Zuschlag für das nächste Mega-Projekt des Pentagon zu bekommen”. Dabei entging Greising (in seiner Begeisterung) wohl zweierlei: Erstens das Finstere, das regelmäßig hinter diesen Pentagon-Projekten lauert (u. nicht nur hinter denen mit dem Zusatz “mega”) u. zweitens die Kernaktivität von riesen Rüstungs- (pardon “Verteidigungs”-) Konzernen wie Boeing, die auch noch Milliarden von Steuerzahlergeldern abkassieren - was diesen Konzernen allerdings dadurch erleichtert wird, dass das Militärbudget der USA gewaltiger ist als das aller seiner potentieller Gegner zusammen.

Chicago ist zwar Sitz aber nicht unbedingt Heimat des ach so freundlichen Boeing- Konzerns - eines mächtigen u. auch mächtig subventionierten ‘Master of War’ (Kriegsherr). Mit Umsätzen von über $51 Milliarden beispielsweise im Jahr 2000 gilt Boeing als der zweitgrößte Waffenschmied des Landes überhaupt. Der größte, der in diesem faszinierenden “Gewerbe” mitmischt, ist Lockheed Martin. Boeing ist Vater von so stolzen Produkten unseres “Systems des freien unternehmerischen Wettbewerbs” wie der landgestützten Abfang-Rakete, dem X-Band-Radar, dem BMC3 (Gefechtsmanagement/Befehl/Kontrolle/Kommunikation) sowie von verbesserten Frühwarnradarsystemen u. flugzeuggestützten Lasern. Womit Boeings Umstrukturierung seines Rüstungsbereichs wohl zusammenhängen dürfte, ist die Tatsache, dass der Konzern mittlerweile Hauptvertragspartner des Pentagon für dessen ebenso gefährliches wie (welt-) destabilisierendes u. dazuhin noch mega-teures ‘Star-Ways-System’ ist - ein System, das eine Schlüsselrolle spielen soll im - völlig öffentlichen - Plan der Vereinigten Staaten, die totale Kontrolle des Planeten nun auch noch auf eine Militärbesetzung des Weltraums auszudehnen. Aber Boeing ist nicht nur fleißig, wenn es darum geht, uns den Himmel auf den Kopf fallen zu lassen, es leistet auch einen ganz irdischen Beitrag zur Tötung u. Verstümmelung zahlloser Erdenbewohner - mittels seiner High-tech- Killer- und -Kaputtmachermaschinen nämlich, wie dem berüchtigten Apache AH-64A-Helikopter, dem F-15 u. dem F/A-18-Hornissen-Kampfjet oder dem ach so berühmten B-52-Bomber - über lange Zeit das “Rückgrat der bemannten strategischen Bombergeschwader der USA” (nachzulesen auf der Boeing-Website). Zu den jüngsten Siegen des B-52 zählt sein “anti-terroristisches” Bombardement des Staats Afghanistan - u. zwar von einer Höhe aus, die garantiert, dass es zu beträchtlichen - sprich tödlichen - “Kollateralschäden” unter der Zivilbevölkerung kommen muss. Der F-15-Kampfjet hingegen ist Star der nun schon 11 Jahre andauernden Bombardierung Iraks - einer Kampagne, mittels derer eine ebenso illegale wie tödliche “Flugverbotszone” durchgesetzt wird. Der F-22 ist ein gemeinsames Kind Boeings mit “Erzrivale” Lockheed Martin - ein “Kampfjet mit garantierter Lufthoheit” - oder wie es die Boeing- Website ausdrückt: “Zuerst sehen - zuerst schießen - zuerst killen”. Aber wenden wir uns nun Boeings “B-2-Stealth-Bomber” zu, denn der zählt sicherlich zu den schlimmsten Erfindungen, zu denen sich die Menschheit je verstiegen hat. Der ‘Stealth-Bomber’ ist ein Tribut an ‘Krieg der Sterne - Die dunkle Bedrohung’ (und hier meine ich den Film!). Ein “Multi-funktional-Bomber, der in der Lage ist, sowohl nukleare wie auch konventionelle Munition zu verwenden”, so Boeing - nämlich “um von US-Basen aus Ziele in aller Welt angreifen zu können”. Somit also das perfekte Gerät zur Durchsetzung von Washingtons Plan (seit dem 11. September zusätzlich gepuscht) einer permanenten militärischen Überlegenheit der USA u. ihrer uneingeschränkten Offensivkraft überall auf der Welt - selbst wenn man von keinem einzigen Staat auf Erden auch nur im entferntesten bedroht wird.

Eines der seltsamsten Projekte, mit denen sich Boeing derzeit beschäftigt, ist das unbemannte “Kampf-Fluggerät” UCAV. Sozusagen nach dem Motto: “Der einzige Weg sicherzustellen, dass deinem Piloten beim Angriff nichts passiert, ist, ihn sein Flugzeug fernsteuern zu lassen”. Anscheinend hat Boeing seine Lektion aus Vietnam gelernt - und noch dazu mit einer Prise Feigheit verfeinert. Ganz im Sinne der (Colin) “Powell-Doktrin”: Möglichst viel Tod u. Zerstörung für den ‘bösen Feind’ bei möglichst minimalen Risiken für die eignen - die, die das Massaker direkt anrichten. “Wir produzieren das UCAV u. andere innovative Verteidigungsprodukte”, so die Boeing-Website ganz im Orwell’schen Sinne, “denn diese Geräte können eine Sache wirklich gut: Leben retten”: KRIEG ist FRIEDEN, LIEBE ist HASS, TOD ist LEBEN.

Abgesehen davon ist Boeing auch noch einer der größten Waffenhändler in der Welt. Die Erzeugnisse des Konzerns finden Verwendung in vielen mörderischen Konflikten, werden geschätzt von repressiven Regimen rund um den Erdball. “Der Apache AH-64A”, so Kevin Martin letzten Dezember, “wurde verkauft an Ägypten, Griechenland, Israel, Saudi-Arabien u. die Vereinigten Arabischen Emirate. Israel verwendete den Hubschrauber für Angriffe auf Palästinenser. Boeings F-15-Eagle (Adler) wurde an Israel, Japan u. Saudi-Arabien verkauft, seine F/A-18-Hornet (Hornisse) an Australien, Kanada, Finnland, Kuwait, Malaysia, Spanien u. die Schweiz”. Zusätzlich profitiert Boeing an seinen Auslandsgeschäften aber auch noch dadurch, dass diese die inländische Nachfrage anheizen. Kevin Martin schreibt: “In einer perversen Manifestation seiner Prioritätensetzung - eigene Interessen vor nationalen bzw. internationalen Sicherheitsinteressen - benutzt Boeing den Waffenexport, um die Nachfrage nach seinen künftigen Flugzeugentwicklungen auf Dauer zu gewährleisten. Neue Waffen (...) im Grunde ja entwickelt für das amerikanische Militär (...) werden an dessen Verbündete überall auf der Welt verkauft (wobei der potentielle Absatzmarkt häufig ohnehin subventioniert ist, so dass es zu keinen Problemen hinsichtlich Forschungs- u. Entwicklungsgeldern kommt). Diese Waffenexporte wiederum führen dazu, dass noch hochentwickeltere u. teuerere Technologien geschaffen werden müssen - von US-Waffenproduzenten - damit nämlich unsere militärische Überlegenheit (USA) gewährleistet ist.” (Kevin Martin, Tim Nafziger, Jeremy Shenk & Mark Swier: ‘The Boeing Corporation’, erschienen in ZMagazine vom Nov. 2001).

Um so weit zu kommen - nämlich an die unangefochtene Spitze des ‘militärisch-industriellen Komplexes’ - hat Boeing viel geleistet. Vor allem hat es sich einen Ruf geleistet als Lohnkostendrücker - indem es gewerkschaftlich relevante Jobs ‘outgesourct’, also ins Ausland verlagert, hat -, es hat die Umwelt verschmutzt u. afro-amerikanische Mitarbeiter diskriminiert. Boeing hat ungeheure Konzernbeihilfen eingestrichen sowie anderweitige Subventionen, die der Staats-Kapitalismus für die Seinen bereithält. Seinerseits hat Boeing massivst in die amerikanische Politik bzw. in den politischen Entscheidungsprozess reinvestiert. So hat der Konzern beispielsweise 1995 eine Summe von $8,2 Millionen für seine Lobby-Arbeit springen lassen u. 1999/2000 allein $1,75 Millionen für Wahlkampfbeihilfen - was aber immer noch eine lächerliche Summe ist im Vergleich zu den Steuerzahler-Milliarden, die der Konzern insgesamt einheimst. Letztes Jahr ist der Boeing-Konzern mit seinem Hauptsitz von Seattle nach Chicago umgezogen. Die Stadt bzw. der Bundesstaat Illinois mussten ihm dafür ein ‘Bonus-Paket’ (wieder zahlt’s der Steuerzahler) im Gesamtwert von schätzungsweise $64 Millionen schnüren, das verteilt über die nächsten 20 Jahre ausbezahlt werden soll.

Bei alldem erhebt sich natürlich die interessante Frage, inwieweit der derzeitige politische Rummel bzw. der Medienrummel um Konzern-Verfehlungen respektive um Beziehungen zwischen korrupten Unternehmen u. dem ‘Weißen Haus’ bereits den eigentlichen Kern der Sache trifft - respektive den verrotteten Kern unseres ‘amerikanischen Systems’. Dass wir uns nicht falsch verstehen, es ist klar zutiefst befriedigend, wenn plötzlich auf allen Titelseiten steht, was wir Linken schon von jeher gewußt haben - vonwegen system-immanente Konzern-Korruption, Konzern-Kriminalität bzw. Konzern-Geklüngele (u. das sind nicht nur die “paar faulen Äpfel”, von denen die Bush-Regierung jetzt faselt). Und natürlich ist es ein gutes Gefühl mitanzuseh’n, wie die Image-Kurse der ‘Fat Cats’ - also der feisten Konzernbosse - plötzlich in den Keller geh’n wie seit den 30er Jahren nicht mehr. Längst überfällig das Ganze. Außerdem ist es schön mitzuerleben, wie der Skandal jetzt allmählich auch noch die Heerscharen ehemaliger Konzern-Manager erfaßt, von denen das ‘Weiße Haus’ ja illegitimerweise nur so wimmelt. Denn selbst gemessen am plutokratischen Standard der USA ist die Bush-Administration ja äußerst konzern-orientiert, extrem konzern-beflissen. Tja, wir sind eben nicht umsonst “die beste Demokratie, die es für Geld zu kaufen gibt!”

Aber trotz alledem - trotz der geänderten Stimmung bzw. Berichterstattung, die momentan die Verantwortung der Konzerne gegenüber der Allgemeinheit ins Blickfeld rücken wie selten zuvor -, wir dürfen eins nicht vergessen: das periodische Fehlverhalten von Konzernen respektive die unzulängliche Abhilfe dagegen (Reformen) sind im Grunde ganz normaler Bestandteil des amerikanischen Staatskapitalismus-Systems: voraussehbar u. immerwiederkehrend. Dass US-Politiker - die ‘Demokraten’ eingeschlossen - nicht wirklich etwas unternehmen, damit diese Dinge ernsthaft bestraft werden oder dass besser reguliert wird, übersieht mancher leicht. Beide Parteien unseres Systems (im Grunde eh nur die beiden (rechter/linker) Flügel einer ‘US-Handelskammer-Partei’) sind nämlich sehr, sehr anfällig für Konzern-’Großzügigkeiten’.

Und was überdies oft u. gern übersehen wird: Das meiste Elend, das die konzertierten Herren der Welt auf diesem Planeten anrichten (menschliches Elend u. Umweltschäden) - eigentlich im Prinzip fast alles - ist Resultat von Konzern-Politik, die sich sowohl an die Regeln des Gesetzes wie an die des Geschäfts hält - das sind sozusagen skandalfreie Konzerne, die nur eben ihre Profite im Auge haben. Oder löst es in den USA etwa einen Skandal aus, wenn Boeing und/oder Lockheed Martin neue Waffen entwickeln, mit denen Menschen in fernen Ländern terrorisiert werden oder wenn McDonalds eine neue Methode erfindet, wie es uns mit noch mehr Cholesterin mästet oder wenn Monsanto Technologien entwickelt, die den Kleinbauern in den Entwicklungsländern das Wasser abgraben? Oder kommt es etwa zu einem Medienaufschrei, regen sich offizielle Stellen auf, werden Manager gefeuert, wenn bekannt wird, dass General Motors die Umweltstandards untergräbt, wenn ‘Iowa Beef Processors’ (‘Iowa-Rindfleischhersteller’) Einwanderer ausbeutet oder wenn führende Energiekonzerne Politiker u. Politmacher in ihrem Sinne beeinflussen? Nein - denn in allen Fällen halten sich die Konzern-Leute ja streng an die Regeln u. an den Geist von Konzern- respektive ‘Business-Amerika’ - an jenes eherne Gesetz, das Konzern-Manager dazu verpflichtet, den Konzern-Profit über alles zu stellen.

Einer revolutionären Gesetzesreform im späten 19. u. frühen 20. Jahrhundert ist es zu verdanken, dass es in Amerika kein Gesetz gibt, das US-Konzerne dazu verpflichten würde, einen gesellschaftlichen Beitrag (irgendeinen!) zu leisten. Wozu die Konzerne andererseits aber grundlegend verpflichtet sind - auch gesetzlich - ist, Gewinne zu produzieren, von denen ihre Investoren profitieren. Konzerne geraten öfter mal in Schwierigkeiten - mit der Regierung, mit der Öffentlichkeit - u. zwar immer dann, wenn infolge von Missmanagement bzw. von Fehlverhalten extrem geldgieriger (oder dummer oder beides) Führungskräfte der Profit einer großen Anzahl von Investoren gefährdet ist. Andererseits kritisiert man Konzerne eher selten, wenn ihr ganz normales Geschäftsgebahren Menschen gefährdet bzw. die belebte Natur - im Interesse des Profits. Dies geschieht aber auf täglicher Basis, u. es nimmt immer mehr zu. Was uns zu einer weiteren ebenso düsteren wie verborgenen Seite des derzeitigen Konzern-Skandals führt; sie hängt eng zusammen mit den Architekten unserer amerikanischen Politik bzw. mit unseren Meinungsmachern. Denn man braucht nun wirklich kein Verschwörungstheoretiker zu sein, um vorauszusehen, dass die derzeitige Fokussierung der Öffentlichkeit respektive der Medien auf den deutlichen Zusammenhang zwischen Konzern-Verfehlungen u. den Sünden der Bush-Regierung die Chance auf einen (Militär-)Schlag gegen den Irak gewaltig erhöht - auf einen massiven u. tödlichen Angriff der USA (auf dieses Land). Frank Rich von ‘The New York Times’ - ganz sicher kein Radikaler u. auch kein Verschwörungstheoretiker - schrieb letzten Samstag: “Jetzt hilft nicht mal mehr ‘wagging the dog’. Wenn Bush u. seine Regierung es wirklich schaffen wollen, die Amerikaner davon abzulenken, dass ihre Pensionfonds gerade die Toilette runtergespült werden, dann müssen sie die gesamte Hundemeute von der Leine lassen. Vielleicht rotten sie ja gleich die ganze ‘Achse des Bösen’ aus - unilateral - weniger wird wohl auch nicht mehr taugen.” Wenn die “Hundemeute”, wie Rich schreibt, jetzt tatsächlich von der Leine gelassen wird - und selbst sollte dies nur teilweise aus dem von ihm angeführten Grund geschehen -, es wäre ein Skandal ersten Ranges. Einer Tatsache jedenfalls können wir uns gewiß sein: wenn es soweit sein wird, werden Boeing u. der Rest der (nationalen) Geschäftspartner unserer “Verteidigung” schon auf der Lauer liegen, um ein Stück von der Beute zu ergattern - ganz im Sinne unseres “(un-)freien Markts”. Und genauso sicher ist, dass daraus nicht der leiseste Skandal erwachsen wird, dass das alles streng nach den Regeln des Geschäfts abläuft - ‘business as usual’ eben.

Übersetzt von: Andrea Noll
 

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