«Wie Krieg aussieht»  
 

Etwas fehlt in all den feierlichen Erklärungen selbstgefälliger Politiker und Kolumnisten zu einem bevorstehenden Krieg gegen den Irak, und selbst in den besorgten Kommentaren einiger der Kriegsgegner. Man redet über Strategien und Taktiken, Geopolitik und bekannte Leute. Es geht um Luftkrieg und Bodenkrieg, Massenvernichtungswaffen, Waffeninspektionen, Bündnisse, Öl und “Regimewechsel”. 

Was dabei nicht zur Sprache kommt, sind die Auswirkungen, die ein amerikanischer Krieg gegen den Irak auf Zehn- oder Hunderttausende normaler Menschen haben wird, Menschen, die sich weder um Geopolitik noch Militärstrategien kümmern, sondern die einzig und allein wollen, dass ihre Kinder am Leben bleiben und groß werden. Ihre Sorge ist nicht “nationale Sicherheit", sondern persönliche Sicherheit, Essen und Unterkunft, medizinische Versorgung und Friede. Ich rede hier von jenen Irakern und Amerikanern, die mit absoluter Sicherheit in so einem Krieg sterben werden, oder Arme oder Beine verlieren oder erblinden werden. Oder die an irgendeiner seltsamen und quälenden Krankheit leiden werden, die dazu führen könnte, dass sie missgebildete Kinder auf die Welt bringen (wie es in Familien in Vietnam, Irak und ebenso in den Vereinigten Staaten vorkam). 

Gewiss, es gibt einige Diskussionen über mögliche amerikanische Opfer bei einer Landinvasion des Irak. Aber wie bei allen Diskussionen der Strategen darüber geht es nicht um die Verwundeten und Toten als Menschen, sondern darum, wie viele amerikanische Opfer es braucht, damit die Öffentlichkeit den Krieg nicht mehr unterstützt und welche Auswirkungen das auf die kommenden Kongress- und Präsidentschaftswahlen haben würde. 

Wie wir aus den Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen im Weißen Haus gelernt haben, stand das für Lyndon Johnson an erster Stelle. Er machte sich zwar Gedanken darüber, dass bei einer Eskalation des Vietnamkriegs Amerikaner sterben würden, aber am meisten Gedanken machte er sich um seine politische Zukunft. Wenn wir uns aus dem Vietnamkrieg zurückziehen, sagte er zu seinem Freund, dem Senator Richard Russell, "werden sie sicherlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen mich einleiten." 

Im Krieg verstorbene amerikanische Soldaten tauchen auf jeden Fall immer in der Statistik auf. Menschen als solche tauchen dort nicht auf. Es bleibt den Dichtern und Schriftstellern überlassen, uns zu packen und zu schütteln und aufzufordern, hinzuschauen und zuzuhören. Im 1. Weltkrieg starben zehn Millionen Soldaten auf dem Schlachtfeld, aber es musste erst John Dos Passos kommen und uns damit konfrontieren, was das bedeutet: In seinem Roman 1919 schreibt er über den Tod von John Doe: "In dem Leichenschauhaus aus Dachpappe in Châlons-sur-Marne, im Gestank nach Chlorkalk und Leichen, entdeckten sie den Kiefernsarg mit seinen Überresten." Ein paar Seiten weiter wird Doe von Dos Passos beschrieben: "Das Blut versickerte im Boden, die Ratten, die in den Schützengräben lebten, fraßen das Gehirn, das aus dem offenen Schädel quoll, der Bauch war aufgeschwollen und diente einer ganzen Generation von Schmeißfliegen als Brutstätte, das Ganze, das unzerstörbare Skelett, die Fetzen getrockneter Eingeweide und Haut, in Khaki gewickelt." 

Der Vietnamkrieg füllte unsere Köpfe mit Zahlen, von denen eine, verewigt in dem schlichten Denkmal in Washington, herausragte: 58000 Tote. Man müsste aber die Briefe der Soldaten kurz vor ihrem Tod lesen, um diese Zahlen in Menschen zu verwandeln. Und für alle diejenigen, die zwar nicht tot, aber auf irgendeine Art verstümmelt sind, die Amputierten und Gelähmten, müsste man Ron Kovics Bericht Born on the Fourth of July lesen, seine Erinnerungen daran, wie sein Rückgrat verschmettert und sein Leben verändert wurde. 

Was die Toten unter “den Feinden" anbelangt – jene jungen Männer also, die eingezogen oder beschwatzt oder dazu überredet wurden, mit ihrem eigenen Leib gegen unsere jungen Männer zu kämpfen – um diese machen sich unsere politischen Führer, unsere Generäle, Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehanstalten keine Gedanken. Bis heute wissen die meisten Amerikaner nicht, oder nur sehr vage, wie viele Vietnamesen – Soldaten und Zivilbevölkerung (tatsächlich je eine Million) –- unter den amerikanischen Bomben und Granaten gestorben sind. 

Und für diejenigen, die die Zahlen kennen, hatten die Männer, Frauen und Kinder, die sich hinter der Statistik verbergen, kein Gesicht, bis ein Bild erschien von einem vietnamesischen Mädchen, das eine Straße herunterläuft und dessen Haut vom Napalm zerfetzt ist, bis die Amerikaner Bilder von Frauen und Kindern sahen, die in einem Graben zusammengekauert im Kugelhagel der Schnellfeuergewehre der GIs starben. 

Vor zehn Jahren, in jenem ersten Krieg gegen den Irak, waren unsere Politiker stolz darauf, dass es nur ein paar hundert amerikanische Opfer gab (man wundert sich, ob die Familien dieser Soldaten auch von “nur” sprechen würden). Als ein Journalist General Colin Powell fragte, ob er wisse, wie viele Iraker in diesem Krieg gestorben seien, antwortete er: “Das interessiert mich nicht wirklich." Ein hoher Beamter des Pentagon sagte The Boston Globe, “ehrlich gesagt konzentrieren wir uns nicht wirklich auf diese Frage". 

Die Amerikaner wussten, dass der Golfkrieg nur wenige amerikanische Opfer gefordert hatte und eine Kombination aus Kontrolle der Presse durch die Regierung und lammfrommer Hinnahme dieser Kontrolle durch die Medien stellte sicher, dass das amerikanische Volk nicht, wie im Vietnamkrieg, mit den toten und sterbenden Irakern konfrontiert würde. Gelegentlich sah man einen kurzen Blick werfen auf die Gräuel, denen die irakische Bevölkerung ausgesetzt war, blitzte die Wahrheit auf in den Zeitungen, die schnell wieder verschwand. Mitte Februar 1991 bombardierten US-Flugzeuge um vier Uhr morgens einen Luftschutzbunker in Bagdad und töteten vier- bis fünfhundert Menschen – meisten Frauen und Kinder – die dort Schutz gesucht hatten vor den unaufhörlichen Bombardierungen. Ein Reporter von Associated Press, einer der Wenigen, die den Ort besichtigen konnten, sagte: “Die meisten der geborgenen Leichen waren verkohlt und bis zur Unerkenntlichkeit verstümmelt." 

In der Endphase des Golfkriegs waren amerikanische Truppen an einem Bodenangriff auf irakische Positionen in Kuwait beteiligt. Wie im Luftkrieg stießen sie auf praktisch keinen Widerstand. Obwohl der Sieg bereits feststand und die irakische Armee Hals über Kopf floh, bombardierten die US-Maschinen weiterhin die fliehenden Soldaten, die die Ausfallstraße aus der Stadt Kuwait verstopften. Ein Reporter nannte die Szene “eine brennende Hölle, eine grausiges Testament. Östlich und westlich der Straße lagen die Leichen der Fliehenden im Sand verstreut." 

Diese grässliche Szene tauchte für kurze Zeit in der Presse auf, und verschwand dann im Jubel über den siegreichen Krieg, in den Politiker beider Parteien zusammen mit der Presse einstimmten. Präsident Bush brüstete sich: “Das Gespenst des Vietnamkriegs ist für immer im Sand der Wüste der arabischen Halbinsel begraben." Die beiden großen Nachrichtenmagazine, Time und Newsweek, druckten Extraausgaben zur Feier des Sieges. Auf ungefähr hundert Seiten wurde in jeder der beiden Zeitschriften der Sieg gefeiert, wobei stolz auf die wenigen amerikanischen Opfer hingewiesen wurde. Nicht ein Wort wurde verloren über die Zehntausende von Irakern – Soldaten und Zivilbevölkerung – die zunächst Opfer von Saddam Husseins Tyrannei und dann von George Bushs Krieg geworden waren. 

Es gab kaum ein Foto von einem einzigen irakischen toten Kind, den Namen eines bestimmten Irakers oder ein Bild der Leiden und des Schmerzes, um den Amerikanern vor Augen zu führen, was unsere überwältigende Militärmaschinerie anderen Menschen antat. 

Die Bombardierung Afghanistans wurde behandelt, als ob Menschen nichts bedeuteten. Sie wurde als ein “Krieg gegen den Terrorismus" dargestellt, nicht als ein Krieg gegen Männer, Frauen und Kinder. Auf die wenigen Berichte über “Unfälle" folgten schnell Verleugnungen, Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Es gab einige Streitereien wegen der Zahl der Toten unter der afghanischen Zivilbevölkerung – aber immer nur Zahlen. 

Nur selten nahmen die Menschen in dieser Geschichte länger als nur für ein kurzes Aufblitzen der Wahrheit mit Namen und Bild Gestalt an, so wie an dem Tag, als ich von dem zehn Jahre alten Noor Mohammed las, der in einem Krankenhaus an der pakistanischen Grenze lag, mit zerstörten Augen und abgerissenen Händen, ein Opfer der amerikanischen Bomben. 

Zweifellos müssen wir über die politischen Fragen reden. Wir nehmen zu Kenntnis, dass ein Angriff auf den Irak eine offensichtliche Verletzung internationaler Gesetze wäre. Wir nehmen zur Kenntnis, dass der bloße Besitz gefährlicher Waffen kein Kriegsgrund ist – sonst müssten wir gegen zig Länder Krieg führen. Wir weisen darauf hin, dass unser Land das Land mit den bei weitem am meisten "Massenvernichtungswaffen" ist und dass es diese öfter und mit tödlicherem Ausgang eingesetzt hat als jedes andere Land der Welt. Wir können auf die Expansion und Aggression in der Geschichte unseres Landes aufmerksam machen. Wir haben gute Beweise für Betrug und Heuchelei auf der höchsten Regierungsebene. 

Aber, da wir nun einen Angriff auf den Irak in Erwägung ziehen, sollten wir nicht über die Pläne der Politiker und Experten hinaus gehen? (John le Carré lässt eine seiner Figuren sagen: “Mehr als alles andere auf der Welt verachte ich Experten.") 

Sollten wir nicht alle bitten, für einen Moment aufzuhören mit dem übertriebenen Gerede und sich vorzustellen, was ein Krieg Menschen antut, Menschen, deren Gesichter wir nicht kennen, deren Namen nirgends erscheinen werden außer auf irgendeinem zukünftigen Kriegerdenkmal? 

Dafür brauchen wir die Unterstützung derjenigen Künstler, die die ganze Zeit über – von Euripides bis zu Bob Dylan – über einzelne, erkennbare Opfer eines Krieges geschrieben und gesungen haben. 1935 schrieb der französische Dramatiker Jean Giraudoux, den 1. Weltkrieg noch frisch in Erinnerung, das Stück "Kein Krieg in Troja". Demokos, ein trojanischer Soldat, bittet die alte Hekuba, ihm zu erzählen, "wie Krieg aussieht". Sie antwortet: "Wie das Hinterteil eines Pavian. Wenn ein Pavian, mit seinem Hinterteil zu uns, auf einem Baum sitzt, das ist genau das Gesicht des Krieges: scharlachrot, schuppig, glasig, eingerahmt von einer verfilzten dreckigen Perücke." Wenn genug Amerikaner dieses Bild sehen könnten, fände der Krieg gegen den Irak vielleicht nicht statt. 
 

Howard Zinn ist der Autor von "A People's History of the United States".